Prolog
Kapitel 1 – Schulbeginn
Kapitel 2 – Fluch der alten Zeiten
Kapitel 3 – Jungs und der Sportunterricht
Kapitel 4 – Auf Forschungstour
Kapitel 5 – Bänder knüpfen
Kapitel 6 – Lehrer und Schüler
Kapitel 7 – Ändert sich jetzt alles
Kapitel 8 – Gedankweilt!
Kapitel 9 – Seitenwechsel
Kapitel 10 – Großbildschirm
Kapitel 11 – Ultimat
Kapitel 12 – Sternenfunkeln
Kapitel 13 – Erholungsreise
Kapitel 14 – Ausfliegen
Kapitel 15 – Schritte
~ Prolog ~
Schweißgebadet saß ich im Bad, zusammen gekauert und vor Schmerz gekrümmt.
Der Wasserdampf, der über der Badewanne entstand, während ich sie mit heißem Wasser füllte, schlug sich an den Fenstern nieder.
Tränen flossen ununterbrochen mein Gesicht hinab. Ich stand auf und kramte die Rasierklingen aus dem kleinen Schränkchen meines Onkels.
Als ich eine davon in meinen Händen hielt, ließ ich mich wieder vor die Badewanne fallen.
Zitternd nahm ich die Klinge und wollte zum Schnitt ansetzen, als sich plötzlich die Tür öffnete.
Der Wasserdampf verließ schlagartig den Raum. Entsetzt ließ ich die Klinge ins Wasser fallen.
„Ach, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du baden wolltest…“
Kapitel 1 – Schulbeginn
Mein Leben hat in letzter Zeit einen großen Umschwung erlitten. Nachdem ich zu sehen musste, wie meine erste große Liebe im Krankenhaus gestorben ist und ich danach auch noch erfuhr, dass mein Vater bei einem Flugzeugunfall ums Leben kam, musste ich zu meiner Großtante und zu meinem Großonkel ziehen. Beide lebten weit von meinem alten Zuhause weg.
Beide waren die einzigen Verwandten die ich einigermaßen gut kannte, und außerdem fand ich ihre Namen gleich an erster Stelle in dem Adressbuch meines Vaters. Als ich ihnen von dem Tod ihres Neffen – meines Vaters – erzählte, boten sie mir gleich an, dass ich bei ihnen wohnen könnte. Außerdem hätte ich die Möglichkeit auf die örtliche Schule zu gehen.
Sie besaßen ein kleines Häuschen mit zwei Stockwerken und einem Keller. Ich bekam ein Zimmer im Dachboden. Es war viel Platz für all meine Sachen da, und auf die Balken die das Dach hielten konnte ich mich gemütlich drauflegen.
Der Umzug lief sehr schnell über den Tisch und ich konnte mich in den letzten Tagen auch ein wenig an den neuen Ort gewöhnen. Es war eine nicht gerade große Stadt, weswegen ich mich hier auch nicht so eingeengt fühlte. In der Nähe gab es auch einen großen Wald, über den es viele Legenden gab. Das hatte ich mir von meiner Großtante erzählen lassen.
Es war gemütlich hier und ich konnte mich einigermaßen wohl fühlen.
Einigermaßen? Dass ich nicht lache!
Seit dem Tag im Krankenhaus wurde mein Leben zu einer einzigen Qual. Ich war nur noch deprimiert und konnte an nichts anderes mehr denken, als alles verloren zu haben. Meine Hoffnungen, meine Träume und Wünsche… alles hatte ich verloren.
Emotionslos fand ich alles nun mehr „egal“. Mir war egal was mit mir passieren würde, egal was mit anderen passiert und egal ob ich lebe oder nicht.
Soviel zu meinem neuen Leben.
In der Nacht vor meinem ersten Schultag lag ich in meinem Bett und starrte aus meinem Dachfenster, das direkt über meinem Bett war. Die Sterne leuchteten an dem klaren Nachthimmel eher schwach und ich musste mich konzentrieren um jeden einzelnen zu erkennen.
Es war schwierig mit meinen Gedanken einzuschlafen.
Wie wohl die neue Schule sein würde?
Trotz meiner nicht zu enden wollenden Gedanken, schaffte ich es doch noch ein wenig dösen zu können.
Am nächsten Morgen weckten mich zärtlich die sanften Sonnenstrahlen. Als ich dann auf meinen Wecker blickte, merkte ich bedauernd dass ich noch einige Zeit hatte bevor ich aufstehen musste. Ich tat es aber trotzdem so früh wie möglich und machte mich auf den Weg zur Schule. Beziehungsweise erforschte ich die Umgebung bis ich zur Schule musste.
Durch die Stadt floss ein schöner Fluss und ich sah gern dem Wasser zu. Trotzdem konnte er einfach nicht DEN Fluss ersetzen.
Ich schlenderte also an diesem Fluss entlang und kam bald zu einer Brücke, die ich überqueren musste um zur Schule zu kommen.
Auf dieser Brücke stand ein Junge, er musste in meinem Alter sein, mit einer Schultasche neben ihn sich auf das Geländer lehnend. Er betrachtete das Wasser, doch als ich an ihm vorbei lief, sah er mich kurz musternd an.
Seit den letzten Ereignissen, machte ich es zu meiner Gewohnheit nur noch schwarz zu tragen.
Ein kurzer Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es jetzt doch höchste Zeit war endlich zu Schule zu kommen und mein Tempo erhöhte sich.
An seinem ersten Tag sollte man doch nicht zu spät kommen, oder?
Ich erreichte schnell das große Schulgebäude und las von einer Tafel in der Aula ab in welche Klasse ich gehen sollte und in welchem Raum die sich befand.
Schnell ging ich in den 2. Stock und suchte meine Klasse. Glücklicherweise befanden sich an jeder Tür Schilder mit dem Klassennamen.
Die Erwartungen und die Gedanken über meine neue Klasse stiegen mir wieder in den Kopf und ich wurde nervöser.
Doch ich gab mir einen Ruck und öffnete die Tür.
Da ich es für unhöflich empfand gleich alle an zu starren, richtete ich meinen Blick direkt auf einen leeren Platz in der hintersten Reihe am Fenster. Schnurstracks ging ich zu dem und besetzte ihn für mich.
Geschafft!
Ein wenig von meiner Last befreit setzte ich mich auf den Stuhl und überlegte ob das wirklich ein geeigneter Platz für mich sei. Zur Tafel sehen konnte ich von der letzten Reihe aus locker, aber gab es da nicht das Problem mit dem Lüften? Aber da es ja eh bald Winter war, machte ich mir darüber keine größeren Sorgen mehr.
Es klingelte zur ersten Stunde, und eine recht kleine, blondhaarige Frau kam herein und stellte sich als unsere neue Klassenleiterin vor. Sie erklärte uns dann einige Regeln, die Hausordnung und den Fluchtplan, bis sie dann von einem Jungen unterbrochen wurde, der ins Klassenzimmer kam.
Bei genaueren betrachten erkannte ich, dass das der Junge von der Brücke war.
Er entschuldigte sich bei der Lehrerin und setzte sich neben mich auf den leeren Platz. Ausgerechnet neben mich! Das konnte ich gerade gar nicht gebrauchen. Zu alle dem nahm er sich die Frechheit mich auch noch anzugrinsen und mich auch noch anzusprechen.
„Ich hab dich doch heute morgen gesehen“, begrüßte er mich.
„Ja“, gab ich zur Antwort.
„Tja ein wenig zu spät komen, stört doch keinen…“, erwartungsvoll sah er mich an, doch ich gab keine weitere Antwort und starrte wieder aus dem Fenster raus.
Die ersten Stunden waren wirklich langweilig und nur halbherzig folgte ich den Vorträgen unserer Lehrerin. Sie meinte dann noch den neuen Schülern – eingeschlossen mir – das Schulhaus zeigen zu müssen, bevor die Pause angefangen hatte.
In dieser setzte mich einfach an der Wand des Schulgebäudes auf den Boden und schlürfte an meiner Milch.
Ich war endlich frei von meinen Gedanken und konnte mal nichts tun. Bis zu dem Zeitpunkt als ein Mädchen meines Alters auf mich zu kam und mich ansprach.
„Na, wie geht’s dir?“, fragte sich nach.
„Geht“, war eine kurze Antwort von mir und aus Höflichkeit fragte ich bei ihr nach, „Und dir?“
„Eigentlich ganz gut, du bist neu hier, stimmts?“
„Japp…“
Sie musterte mich genau und dann sagte sie etwas, das mich schockte.
„Sag mal, erkennst du mich nicht mehr?“
Ich blickte zu ihr hoch und sah sie genauer an. Schulterlanges, braunes Haar, dunkelbraune Augen, nicht zu schlank und nicht du füllig war sie. Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Ich zweifelte überhaupt daran sie jemals gesehen zu haben.
„Wir waren mal zusammen in einer Klasse! Bis ich umgezogen bin… Wir waren gute Freunde. Na, kommen jetzt die Erinnerungen wieder hoch?“
Ich überlegte nach und versuchte mich zu erinnern. Es gab mal ein Mädchen, dass nach einem gemeinsamen Schuljahr weggezogen war. Nach meiner Einschätzung war sie sogar in mich verknallt.
„Ich hab in der Klassenliste nachgesehn“, sagte sie, „Und dein Name viel mir sofort ins Auge. Mensch, wie du dich verändert hast!“
Fassungslos saß ich auf dem Boden vor dem Schulgebäude und konnte noch nicht einmal mehr einen Schluck von meiner Milch nehmen.
Ausgerechnet hier und jetzt musste sie mir begegnen…
Kapitel 2 – Fluch der alten Zeiten
‚Na Toll!‘, dachte ich mir, als meine schöne Pause von einer alten „Freundin“ total über den Haufen geschmissen wurde. Klar freute ich mich auch ein wenig darüber, eine mir bekannte Person in dieser neuen Stadt anzutreffen, aber vielmehr warf es mich total aus der Bahn, wieso ausgerechnet sie und wieso an diesem Ort.
„Schon ewig lange her, seit dem wir uns das letzte mal gesprochen haben, nicht wahr?“, grinste sie und setzte sich neben mich auf den Boden. Es war noch warm genug gewesen, sodass es eigentlich doch recht gemütlich war sich auf Boden zu setzen. Sofern man gerne saß, versteht sich.
„Mh, japp“, meinte ich und nahm einen Schluck meiner Milch.
„Erzähl doch! Wie geht es dir? Was hast du in den letzten Jahren so gemacht?“, fragte sie energisch.
Ich merkte schon, in all den Jahren hatte sie kaum etwas an ihrer nervigen, aufgedrehten Art verloren. Innerlich seufzte ich mehrmals auf.
„Mein Vater ist gestorben und ich bin hier zu meiner Großtante und Großonkel hergezogen…“, erzählte ich, wie sie es von mir gewünscht hatte.
„Ohweh! Das tut mir aber Leid!“, stieß es aus ihr heraus und konnte den folgenden Kommentar nicht lassen, „…und deswegen trägst du nur schwarz?“
Hätte mir in dieser Situation zu gerne mit der Hand gegen die Stirn geschlagen. Nicht nur wegen der schlauen Erkenntnis, sondern auch wegen diesem komischem Mitgefühl. Nunja, komisch? Sonst wär ich wohl glücklich darüber gewesen, dass mir jemand Mitgefühl zukommen ließ, aber bei ihr hörte sich das einfach so gekünstelt an.
„Japp“, war eine kurze Antwort und ich wandt mich wieder einem köstlichem Schluck Milch zu.
Dann fing sie an, von sich zu erzählen und wie schade die es fand damals wegziehen zu müssen und dass ihre Eltern doch mussten und… ach, ich habe eigentlich nicht wirklich ihr folgen können, geschweige denn wollen. Ich hoffte in diesen Momenten einfach nur, dass sie nicht merkte, dass ich nicht zuhörte. Aber das merkte sie bestimmt nicht. Sie war eine der Personen die sich liebend gern beim Reden selbst zuhörten und in ihrer egozentrischen Rede alles um sich herum vergaßen.
Glücklicherweise schlug jetzt die Schuluhr. Mir fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen. Endlich war die Pause vorbei!
Auf dem Weg ins Klassenzimmer fragte sie mich noch ob ich nach der Schule Zeit hätte, sich mit ihr in der Stadt zu treffen. Ich lehnte aber ab und bot ihr an, das aufs Wochenende zu verschieben und dass sie mir ruhig die ganze Stadt zeigen könnte. Wie sie danach strahlte, war wirklich süß, aber ich merkte dann auch worauf ich mich eingelassen hatte. Komisch, dass ich dies sagte. Lag wohl an den Erinnerungen, die in mir in diesem Moment aufkamen.
Der Unterricht hatte schon längst begonnen aber ich schwälgte in meiner Traumwelt.
Es war Sommer. Mitte Juli. Das Ende des Schuljahres war schon so gut wie da, aber die Lehrer wagten nicht damit aufzuhören, uns immer noch so viel Stoff reinzudrücken wie sie konnten.
Ich war 12. Das zweite Jahr auf dieser Schule und ich hatte schnell Freunde gefunden. Ein Mädchen, das, seit sie mich näher kennenlernte, ständig an meiner Seite hing und mein bester Freund, der jedoch zwei Jahre vor unserem Abschluss sitzen geblieben war, wodurch unser Kontakt ein wenig abbrach. Ich traf mich mit ihm noch in den Pausen, aber der Alltag war nicht mehr der gleiche, ohne ihn in als Banknachbar. Dieses absonderliche Mädchen, das ich nie lernte richtig zu verstehen, zog nach dem Sommer um.
Es war ein wunderschöner Sommer. Ein Sommer der durch seine oberflächliche, scheinheilige Ästhetik verzauberte. Doch tief im Innersten, dieses bewegten Sommers, war es finster und golden zugleich. Denn ich habe Erfahrungen erlebt, die ich in den Jahren danach schnell wieder vergaß.
Die Lehrerin riss mich aus meinen Gedanken, tadelte mich und bat mich etwas aus dem Buch vorzulesen. Ich las einen Abschnitt und verschwand danach, als eine offene Diskussionsrunde in der Klasse entstand, äußerlich apathisch und innerlich vertieft, in meine Gedanken.
Einen Monat später, wir bekamen schon längst die Zeugnisse in unsere Hand gedrückt, begannen endlich die großen Ferien. Wie lange wir, ungeduldig sitzend in dem grauen Klassenzimmer, schwitzend und uns sehnend nach kühlem Wasser, Eis und freien sonnigen Nachmittagen, gewartet haben, um den letzten Tag des Schuljahres erleben zu können, um unsere Zeugnisse zu bekommen, um das letzte Klingeln der Schulglocke zu hören und nach Hause zu rennen, in der Hoffnung dass einem die Eltern für die schlechten Noten nicht tadelnd verbieten an jenem Nachmittag ins Freie zu stürmen und mit seinen Freunden einen der wundervollsten Nachmittage in einem Schwimmbad in diesem scheinheiligen Sommer verbringen zu können.
Es war ein Sommer, in dem ich mit meinen zwei besten Freunden einen Ausflug machen wollte. Unser Plan war es mit dem Fahrrad an meinem Lieblingsfluß entlangzufahren. Kilometerweit, bis wir an einen Ort kamen, an dem wir die Zelte aufschlugen konnten und eins, zwei Nächte übernachten konnten.
So taten wir es.
Es war Samstag, ein Tag wie er hätte nicht schöner sein können. Die Sonne knallte regelrecht auf uns hinab. Der Schweiß konnte sich gerade noch so im Zaum halten, denn der Fahrtwind, der angenehme Fahrtwind kühlte unsere Körper in dieser Hitze.
Wir fuhren Stunden, mal schnell mal langsam, immer die Umgebung in unserem Auge. Wie ich es genoss an Spaziergängern vorbeizuradeln, die Bäume und Sträucher, die im Wind raschelten, neben mir zu haben und dem glänzenden Fluss, der sich auf seinen Weg nicht der Geschwindigkeit bemühte, zu beobachten. Es war ein Himmlisches Gefühl, das sich in mir breit machte. Es war Freude und Freiheit und sie ballten sich in mir zusammen und türmten sich auf zu einem Gefühlscocktail, der mich überglücklich machte.
Zwischendurch machten wir eine Pause, stiegen von unseren Rädern und aßen selbstbelegte Sandwiches. Dann fuhren wir weiter.
Es wurde langsam kühler und wir kamen endlich an unseren Zielort an. Der Fluss war an dieser Stelle etwas breiter als normal, einige Bäume wuchsen am Ufer und auf einer lichten Wiese schlugen wir unsere Nachtlager auf. Wir bauten zu dritt zwei Zelte auf. Eines für mich und meinen Freund, ein anderes für sie.
Als es dunkler wurde, saßen wir gemeinsam in der Wiese, betrachten den abendlichen Himmel und unterhielten uns über so einige Themen.
Das wäre einer der tollsten Ausflüge in meinem Leben gewesen, wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht hätte.
Es war spät, wir haben uns längst zum schlafen hingelegt. Es war allerdings so warm, dass wir beiden Jungs nur in Unterhosen auf der Luftmatratze schliefen.
Nach Mitternacht, vermutete ich, wachte mein bester Freund auf und ging aus dem Zelt, wahrscheinlich um kurz aufs Klo zu gehen. Die Geräusche die entstanden sind, als er sich auf der knarksenden Luftmatratze bewegte und als er den Reissverschluss öffnete, weckten mich aus meinem leichten Schlaf.
Ich dachte mir nichts dabei und drehte mich auf die Seite. Ich wunderte mich auch nicht, als sich der Reissverschluss wieder öffnete und sich jemand neben mich lag.
Aber es irritierte mich, als mich eine Hand sanft über meinen Oberarm streichelte und als sich die Hand zwischen meinen Arm und meiner Hüfte durchgrub und mich umschlung. Als sich dann noch ein mit Kleidung bedeckter Körper sich an meinen presste, hatte ich genug.
Ich drehte mich um und blickte in die Augen der Person die mich umarmte.
„Du bist ja wach“, erschrak sie.
„Du auch“, antwortete ich und sah sie fragend an, worauf sie schnell rot wurde. Gut, wie ich das in der Dunkelheit der Nacht erkennen konnte, war mir ein Wunder, aber ich fühlte es irgendwie.
Sie nahm nicht ihre Hand zurück und mir flogen einige Gedanken durch den Kopf, bis ich sprach: „Du hast dich mit ihm abgesprochen, oder?“
Wie als könnte ich ihre Gedanken lesen, legte ich ihren schlecht durchdachten Plan dar.
Ihr Schweigen war mir Antwort genug, ich hatte also recht. Also schwieg ich zurück.
Es war betrückend und ich kam mir irgendwie fehl am Platz vor. Aber anstatt, dass ich mich wehrte, lies ich es auf mich zukommen.
Sie drückte sich an meine Brust. Mir kam das alles so neu vor – ich war ja auch erst 12 – und mein Herz pochte, lies mir aber äußerlich nichts anmerken. In Gedanken dachte ich an meinen Freund, der Teil dieses Plans war.
Sie erzählte mir etwas, ich kann mich kaum noch daran erinnern. Es ging darum, dass sie in mich verliebt sei und dass sie dies alles mit meinem Freund abgesprochen hatte und er ihr half. Meinen verfegten Erinnerungen zufolge hatte sie etwas anderes erwähnt.
Sie strich mit ihrer linken Hand über meine Backe, sie gab mir einen schnellen Kuss, streichelte dann mit dieser Hand über meinen Hals, meine Brust und meinen Bauch entlang bis zum Bund meiner Unterhose.
In mir kamen so einige Gefühle hoch und ich musste aufpassen, was mit mir geschah. Ich erinnere mich kaum noch an ihre Worte.
Mein Herz raste. Ich war total aufgeregt und wusste nicht, wie mir geschieht. Sie nahm den Bund zwischen ihren Daumen und ihren Zeigefinger und zog daran, in Richtung Füße.
Ich war nackt. Nackter als es mir angenehm war. Und sie tat etwas mit mir das ich mir lange Zeit nicht erklären konnte. Sie beugte sich hinunter und…
Es klingelte. Die Stunde war vorbei und wir hatten nun Sport. Ich packte das Zeug auf meinem Tisch in meine Tasche und ging zur Sporthalle.
Kapitel 3 – Jungs und der Sportunterricht
Ich folgte der Klasse, die ja wusste wo sich die Sporthalle befand. Die Schule war recht groß und so führte unser Weg mal links, mal rechts herum und dann einen langen mit Kindermotiven verzierten Gang entlang. Ich versuchte mir so viel wie möglich vom Weg einzuprägen, denn falls ich mal allein irgendwohin müsse, wollte ich nicht unbedingt jemand fragen, wo dieser oder jener Raum sei.
Die anderen gruppierten sich alle. So gab es da eine kleine Gruppe von Draufgänger-Jungs, mit denen ich gleich von Anfang an nicht viel zu tun haben wollte. Dann gab es da noch 3 Mädchen, die anscheinend die besten Freunde waren. Zum Schluss gab es auch noch eine kleine Gruppe, die jeder andere wohl als die „Streber“ hätte einordnen können. Ich hatte eigentlich nichts gegen „Streber“ in dem Sinne. Früher gehörte ich ja auch zu den Besten in der Klasse.
Der Rest meiner Klassenkameraden liefen wirr umher, manchmal gingen sie zu diesem Freund, oder zu einem anderen, da konnte man keine Gruppen ausmachen.
Auch sie lief, für mich sehr sorgenlos, umher und redete mit ihren Freunden. Konnte sie sich nicht erinnern, erinnern an das was zwischen uns geschah. Mir lag der Gedanke an Vergangenheit schwer im Magen. Ein Schmerz fuhr durch meinen Körper, als ich wieder die Bilder im Krankenhaus sah. Mir wurde kalt und meine Häärchen stellten sich auf. Etwas war in mir und hätte ich es freigelassen, wäre ich heulend und schluchzend auf den Boden gefallen.
Mit all meiner Kraft schluckte ich es hinunter, es sollte warten bis ich zu Hause war.
Zuhause…
Das Haus meines Großonkels war kein Zuhause für mich. Es war nur ein Ort an dem ich wohnen konnte, bis ich ein eigenens Zuhause hatte.
Ich wollte einfach nicht mehr…
Das Schulgebäude hatte eine direkte Verbindung zur Sporthalle. Es führte ein Gang zu den Umkleiden. Auf der linken Seite die für die Mädchen und auf der rechten Seite die für die Jungs. Wir hatten getrennten Sportunterricht.
‚Ein Glück‘, seufzte ich in Gedanken und hoffte, dass ich mich endlich von diesen Erinnerungen mit ihr lösen konnte.
Sport gehörte zwar nicht zu meinen Lieblingsfächern aber so schlimm fand ich es dann auch wieder nicht.
Ich folgte den anderen Jungs in eine Umkleide. Sie war nicht allzu groß, aber auch nicht so klein, dass wir nicht alle einen Platz zum Umziehen bekommen hätten.
Die Jungs fanden schnell einen Platz, hatten wohl alle schon ihre Stammplätze im Laufe der Jahre ergattert. Für mich blieb ein Platz in der hintersten Ecke der Umkleide übrig.
Ich war glücklich darüber, denn es erfüllte mich irgendwie mit einem Gefühl der Sicherheit. So genau erklären kann ich das auch nicht, aber ich fühlte mich schon immer beim Umziehen in dieser Ecke sicher.
Meine Jacke hing ich an einen grün gefärbten Haken, der sich an einer Stange über der Bank befand. Die Schuhe zog ich aus und stellte sie unter die Bank. Aus meiner Sporttasche kramte ich die Schuhe heraus und legte mir eine Sporthose und ein Shirt beiseite. Das Handtuch fürs Duschen lag ich mir auch schon parat.
Langsam begann ich mich auszuziehen. Ich griff mein Shirt und zog es über meinen Körper. Richtig in Form gehalten hatte ich mich nie und ich war beeindruckt wie sportlich und muskulös andere aus meiner Klasse im Gegensatz zu mir waren.
Als ich zu meinem Gürtel griff und diesen öffnete, spürte ich plötzlich etwas. Nicht in mir, eher an mir. Es fühlte sich so an als würde ich beobachtet werden.
Mir war das schon fast peinlich mich jetzt in so einem Moment auszuziehen, also hielt ich für einen Moment inne.
Ich drehte meinen Kopf und erkannte, dass sich mein „Umziehnachbar“ nicht umzog. Schnell wandte er sich zu einer anderen Seite.
‚Hab ich es doch gewusst‘, dachte ich mir.
Er war es, der mich musterte. Wäre es irgendeiner aus meiner Klasse gewesen, wäre mir das für diesen Augenblick noch egal gewesen, aber es war er. Der Junge den ich morgens an der Brücke getroffen hatte, der Junge der zufälligerweise in meiner Klasse war und der zufälligerweise sich genau neben mich saß.
Ob er etwas merkte? Ob er merkte, dass ich mich für Jungs interessierte? Mir war es zwar egal, was die anderen dann von mir halten würden, wenn mein Geheimnis wirklich raus kommen würde, aber ich hatte keine Lust auf den Aufruhr und dass ich dann Gesprächsthema Nr. 1 in der Klasse werden würde.
Dabei…
Wie solle er das überhaupt herausfinden? Ich habe doch gar keine Anzeichen an mir, woran man das erkennen könnte.
Trotzdem beunruhigte mich es. Für die Zukunft sollte ich wohl etwas vorsichtiger sein.
Ich seufzte innerlich auf, was mich symbolisch von meinen Gedanken befreien sollte.
Dann begann ich weiter mich umzuziehen. Ich streifte mir die Hose vom Körper und schlüpfte sogleich in meine schwarze Sporthose. Sie war aus einem luftdurchlässigen Stoff, der einem wohl vor dem Schwitzen bewahren sollte. Dann zog ich mir mein Shirt an. Es hatte lange Ärmel, war schlank geschnitten und in einer schönen dunkelblauen Farbe.
Ich setzte mich auf die Bank um mir die Schuhe anzuziehen und erhaschte mir schnell einen Blick meines Nachbarn. Dabei versuchte ich dies so unauffällig wie möglich zu tun.
Er war gerade dabei sich die Hose auszuziehen und da ich nicht unhöflich sein wollte, wandte ich meinen Blick wieder meinen Schuhen zu. Ein Glück das er dies nicht gemerkt hatte.
Nach nur kurzer Zeit waren alle mit dem Umziehen fertig und auf dem Weg in die Halle. Wir mussten durch eine zweite Tür in der Umkleid einen kleinen Gang entlang und durch eine schwere Tür mit großen Fenstern in die Sporthalle der Jungs.
Durch große Vorhänge war die Halle zweigeteilt.
Ein muskulöser Kerl, mit Dreitagebart und einer Trillerpfeife um den Hals und einem Klemmbrett unter dem Arm kam in die Halle und stellte sich als unser Sportlehrer vor. Manche kannten wohl diesen Lehrer und ein Getuschel zwischen manchen Schülern fing an. Ich ließ mich auf jeden Fall nicht von ihm täuschen und stellte mir einfach vor, er wäre wie jeder andere normale Lehrer auch, was er im Grunde ja eigentlich auch war!
Nach ein paar Dehnübungen fingen wir damit an Fußball zu spielen. War ja wohl ein gelungener Start in den Sportunterricht des Jahres.
Ob es mir Spaß machte einem Ball hinterherzurennen und ihn in ein Tor zu treten war eine andere Sache, aber ließ es einfach geschehen. Glücklicherweise hatte ich eine Beschäftigung während dieser endlos scheinenden Zeitspanne gefunden. Ich machte mich ein wenig mit meinen Klassenkameraden vertraut – nicht auf diese „Hi-ich-heiße-soundso-wer-bist-du?“-Art sondern auf meine eigene.
Ich beobachtete die anderen und versuchte ein wenig ihr Verhalten und ihr äußeres zu analysieren.
Bei meinen Beobachtungen viel mir er ganz besonders auf. Er spielte mir liebend gern mal den Ball zu, immer wenn er mich ansah mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Wollte er mich beeindrucken? Oder war das nur ein überlegenes Lächeln, das mir sagen wollte „Ich weiß von deinem Geheimnis“?
‚ARGH!!!‘, brüllte ich mich innerlich an.
Wieso machte ich mir so viele Gedanken über ihn? Eigentlich war es mir doch egal, mir war doch alles egal geworden! Aber, wieso zerriss ich mir über so eine Sache noch den Kopf? Vielleicht war auch einfach zu viel passiert in letzter Zeit. Dazu noch diese Erinnerungen mit ihr, die mir immer wieder vor meine Augen sprangen und mich fesselten, wie Ketten von denen ich weiß, dass ich mich niemals von diesen befreien werden könne.
Ich wollte nur noch nach Hause und mich mit Musik zudröhnen.
Die ganze Zeit musste ich daran denken. Ein Vorteil war, dass die Zeit nun wie im Fluge verging und der Sportunterricht endete.
Jetzt schnell duschen und ab nach Hause.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
DUSCHEN!
Hoffend, dass es sich nicht um eine Gruppendusche handelte, zog ich meine Hose, mein Shirt und die Schuhe, sowie Socken aus und schnappte mir mein Handtuch und mein Duschgel und ging zur Dusche. Ich öffnete die Tür.
Es war eine Gruppendusche.
‚Na toll!‘, beschwerte ich mich ohne dies laut auszusprechen.
Ich ging schnell zurück an meinen Platz, warf mir das Handtuch um und zog mir meine Boxershort aus, ohne dass dies jemand beobachten konnte.
Dann ging ich wieder zur Dusche. Ich schluckte und betrat diese. Heißer Wasserdampf kam mir schon entgegen und im Nebel konnte ich nur ansatzweise die Körper der anderen Jungs erblicken.
Instinktiv suchte ich mir eine Ecke des Raumes in der ich in Ruhe duschen konnte.
Mein Schicksal musste mich lieben, dachte ich in dem Moment in dem ich erkannte, dass in der Ecke in der ich mir meinen Duschplatz ausgesucht hatte, er stand. Mittlerweile kam es mir schon so vor, als würde er immer auf mich warten.
Ich wollte mir meine Angst nicht anmerken lassen, also warf ich – ich versuchte mich innerlich zu beruhigen – das Handtuch einfach über die dafür vorhergesehene Stange über dem Duschkopf und drehte das Wasser auf. Das heiße Wasser prasselte über meine Haut und nun konnte ich mich auch äußerlich etwas bespannen. Dabei entfiel mir nicht der Blick, der mir hinter meinem Rücken immer von ihm zugeworfen wurde.
‚Wenn er mich unbedingt beobachten will, soll er das doch ruhig tun, das ist mir jetzt auch egal‘, sprach ich zu mir.
Er musterte mich, immer und immer wieder und ich wusste davon. In diesen Momenten ließ ich es einfach geschehen.
Als ich fertig war, trocknete ich mich ab, ging zu meinem Platz und zog mich wieder an. Dann ging ich auf kürzestem Wege nach Hause.
Meine Großtante hatte schon gekocht und sehnsüchtigst gewartet, bis ich nach Hause komme. Es gab Pfannkuchen. Köstliche Dinger und meine Großtante konnte sie besser kochen als ich.
‚Mhhh, ich habe für ihn auch Pfannkuchen gemacht und es endete in einer Mehlschlacht und einer Bestellung vom Chinesen‘, erinnerte ich mich.
Wieder eine schmerzhafte Erinnerung. Ich krallte meine linke Hand in meinen Oberschenkel.
Nach dem Essen ging ich sofort auf mein Zimmer.
Kapitel 4 – Auf Forschungstour
Die Schulwoche verging schnell.
„Was für ein Glück!“, seufzte ich auf als ich am Samstag morgen aus meinem Bett stieg. Ich habe in der letzten Woche einige meiner Klassenkameraden einigermaßen gut kennen gelernt. Mit den meisten werde ich wahrscheinlich nicht näher in Verbindung treten. Bis diese zwei besonderen Personen.
„Da blüht mir ja noch was…“, murmelte ich und zog mir ein Shirt an. Danach schlüpfte ich in eine schwarze Hose, deren Stoff, schon vom vielen tragen an Farbintensität verloren hat, sich ein wenig wie Jeans an fühlte. Sie war schon abgetragen. An den Fersen schon fast zerrupft.
Dann packte ich mir ein Paar Socken aus meinem Schrank, zog diese auch an und ab ins Bad. Schnell die Zähne geputzt. Heute wollte ich ein wenig an der frischen Luft spazieren gehen. Gutes Wetter dafür war ja – habe ich durch einen prüfenden Blick durch mein tolles Dachfenster festgestellt.
Noch ein Blick in den Spiegel. Ich hob beide Arme und machte mir meine Haare zurecht. Einen Kamm wollte ich nicht benutzen.
Ich hielt inne.
Diese Narben…
Ich erinnerte mich an den Sportunterricht und hoffte, so leichtsinnig wie ich war, dass keiner diese Narben erkannte. Das nächste mal sollte ich doch gleich etwas langarmiges drunter Tragen, dass ich nicht ausziehen brauchte. Außerdem hatten wir Sport in der letzten Stunde, also wieso nicht zu Hause duschen?
Grübelnd spielte ich mit diesen Gedanken. Aufmerksamkeit wollte ich keineswegs erregen. Wäre für mich wohl besser, wenn ich dies ab sofort so tun würde. Sicher ist sicher!
Jetzt doch noch kurz im Zimmer vorbei schauen und mir ein langarmiges Sweatshirt überwerfen. Es ist ja auch bald Herbst, da sollte man sich schon richtig vorbereiten.
„Meiner Großtante sollte ich auch noch lieber Bescheid geben, dass ich jetzt ein wenig unterwegs sein werde, also wäre es angebracht noch schnell in die Küche zu gehen, Durst habe ich auch…“, dachte ich mir und stieg die Treppen hinab und ging zur Küche.
Keiner da.
Noch ein Schluck Wasser genommen und einfach mal darauf los gerufen: „Ich bin mal unterwegs, ich weiß noch nicht wann ich wiederkomme!!! Mein Handy hab ich dabei, falls was sein sollte bin ich also erreichbar!! Bis später!“
Ich ging zum Flur, zog meine Schuhe an und öffnete die Tür. Wollte schon fast heraus springen, aber etwas hinderte mich daran. Eher gesagt, SIE hinderte mich daran.
Warum überraschte mich das in diesem Augenblick kaum?
Mal wieder seufzte ich innerlich auf. Was wollte sie denn jetzt schon wieder von mir?
„Guten Morgen…“, sagte ich mit einer weniger gut gelaunten Stimmung, als ich es bis vor dem Öffnen meiner Tür noch war.
„Du bist ja schon fertig! Hab ich nicht von dir erwartet, gut dann zeig ich dir jetzt mal die Stadt!“
„Halt halt halt!“, stoppte ich sie und wies die Hand, die schon meinen Arm gepackt hatte zurück, „Was hast du vor? Und woher weißt du denn überhaupt, dass ich hier wohne!?“
„Wozu gibt’s das Telefonbuch“, antwortete sie prompt, „und weißt du nicht mehr? Du hast es mir in die Hände gelegt, dass ich dir die Stadt zeige! Weißt du nicht mehr?“
Diese Erinnerungen an, in und um sie! Warum mussten ausgerechnet diese mich immer so schrecklich nerven. Als alter Mann würde ich davon sicherlich Antidepressivas nehmen müssen.
Ich verdrehte die Augen und ließ es einfach auf mir ergehen.
Und auf einmal war er hin, mein schöner, schöner Spaziertag.
So führte sich mich also durch die Stadt, zeigte mir einige Wohngebiete und dann die Innenstadt mit den ganzen Läden und Clubs. Sie laberte mich voll mit Dingen die ich eigentlich gar nicht für nötig empfand. Was gerade am angesagtesten war, wo sich die „coolen“ Leute trafen, wo man mit wem am besten Einkaufen konnte und vieles mehr.
Vom ganzen Laufen taten mir schon die Füße weh. Nach einiger Zeit, es waren sicherlich schon 2 oder 3 Stunden vergangen, in denen wir einfach nur umherliefen, fragte ich sie ob wir nicht in einem Café etwas trinken konnten und eine kleine Pause einlegen könnten.
Da hatte sie auch schon gleich ein wunderschönes Café parat. Auf den Namen achtete ich nicht, konnte auch nicht wirklich darauf achten, da sie mich viel zu hastig in das Café mit hineinzog. Das Ambiente war wunderschön. Die Wände waren in einem schönen und hellen Lachs-Ton gestrichen. Und die Tische hatten schöne Tischdecken. Pflanzen verpassten dem ganzen Flair noch ein gewissen Charme. Alles in allem konnte man in diesem Café sich sehr wohl fühlen.
Ich bestellte mir einen Kakao, denn Kaffee trank ich nur ungern. Was sie trank, hatte ich in dem selben Moment schon vergessen, in dem sie es bestellte. Ich konnte auch keinen Blick in ihre Tasse erhaschen, da sie diese die ganze Zeit vor ihr Gesicht hielt und auch schnell leer trank.
Wir unterhielten uns und plötzlich war sie nicht mehr so aufdringlich wie vorher. Sie kam mir jetzt viel ruhiger entgegen und sprach auch nicht so schnell. Es tat ihr wahrscheinlich auch sehr gut einmal eine Pause einzulegen.
Ja wir unterhielten uns. Unterhielten uns über die Schule. Über was hätten wir denn auch sonst reden sollen? Aber es interessierte mich und ich hoffte einige Informationen zu bekommen.
Sie erzählte mir von welchen Mädchen ich in der Klasse mich wohl besser fern halten sollte und zu welchen Personen ich mich ruhig wenden könne, falls ich mal ein Problem mit diesem oder jenem hätte.
Ich musste aber ständig an etwas anderes denken. Ihren Erzählungen konnte ich nicht wirklich folgen.
Wir waren früher so dicke Freunde. Sie war meine beste Freundin. Doch… mit der Zeit hat sie sich verändert und… ICH habe mich verändert. Ich fragte mich ständig ob wir jetzt noch Freunde waren, nur dadurch, DASS wir früher Freunde waren. Das muss ja nicht gleich heißen, dass man wieder befreundet ist, wenn man sich seit längerer Zeit wieder sieht. Es ist wie wenn man aus einem Karton voll von alten Sachen eine CD rauskramt. Eine CD die man in der Vergangenheit so gern gehört hatte, aber man sie jetzt nicht mehr hören will, weil sie einem entweder schon aus den Ohren raushängt, oder weil man seinen Musikgeschmack verändert hat.
Habe ich meinen Geschmack verändert? Das sollte sich wohl in der Zukunft ergeben. Deswegen legte ich dieses Thema mal wieder auf die Seiten.
Ich hörte wieder wie sie redete: „… und vor ihm solltest du dich besser fern halten, er ist nämlich schwul.“
Wie als hätte es in meinem Kopf „Klick“ gemacht, wandte ich nun schon fast automatisch meine volle Aufmerksamkeit wieder ihr zu.
„Auf der letzten Klassenfahrt soll er sich nämlich an einige Jungs rangemacht haben. Hat echt einen mords Aufruhr unter unseren Klassenkameraden gegeben. Die Lehrer haben davon natürlich nichts mitbekommen, hätte auch kein gutes Licht auf ihn geworfen.“
Ich nickte, kommentierte das Ganze mit einem „Aha“ und schlurfte an meinem Kakao.
„Ich glaube, ich werde da schon auf mich aufpassen können“, fügte ich dem ganzen noch hinzu.
Er war also Schwul.
Habe ich es doch gewusst! Als gleichgesinnter hatte ich das gleich gemerkt. ‚Kein Wunder dass er mich so komisch musterete‘, dachte ich mir, ‚Ich hoffe nur, dass er nicht merkt, dass ich es auch bin…‘
„… noch da?“, sagte sie und ich wachte aus meinen Gedanken wieder auf und sah wie sie mit ihrer Hand vor meinem Gesicht winkte.
„Eh ja!“, sagte ich schnell und entschuldigte mich.
Wir saßen noch lange in dem Café. Gegen Ende unseres gemeinsamen Tages starrten wir beide nur noch aus dem Fenster und sahen zu, wie ein Laden nach dem anderen schloss und die Lichter allmählich ausgingen.
Ein Blick auf meine Handyuhr verrut mir auch schon, dass es recht spät war. Ich bedankte mich bei ihr für den schönen Tag und dass sie mir alles gezeigt hatte, wünschte ihr noch ein schönes Rest-Wochenende und verschwand ab nach Hause.
Ich ging hoch auf mein Zimmer, starrte in den Abendhimmel, bis es an meiner Tür klopfte.
Es war mein Großonkel der mich zum Essen abholen wollte.
Kapitel 5 – Bänder Knüpfen
Mittlerweile waren 2 bis 3 Wochen vergangen. Während dieser Zeit stopften die Lehrer den Stoff nur so in den Unterricht, die ersten Abfragen wurden gehalten und Tests wurden auch schon geschrieben.
Ich folgte dem Unterricht nur halbherzig, meldete mich nur wenn ich etwas wirklich wusste und tat nur das nötigste. Trotzdem schaffte ich es so gut aufzupassen, dass wenn ein Lehrer mich etwas fragte, ich die Antwort sofort parat hatte und bei Ausfragen ich immer gut bis sehr gut Abschnitt. Ein Wunder, wenn man das so sah. Aber ich muss sagen, dass die langweiligen Nachmittage und das zunehmend schlechtere Wetter mich dazu trieben, aus reiner Langeweile den Stoff des Tages durchzulesen und zu lernen. Ich las, als hätte ich ein Buch in der Hand und versuchte mir geschichtliche Ereignisse, Matheaufgaben und Englisch-Übersetzungen bildlich und spannend vorzustellen. Ich hatte ja auch kaum etwas zu tun.
Ich befreundete mich auch wieder mit ihr. Nun ja, was heißt besser? Wir waren doch schon einmal beste Freunde gewesen und sie nahm sicherlich an, dass wir das immer noch wären. Aber trotzdem kann ich den Fakt, dass wir uns über die Jahre die verstrichen waren, weder einmal geschrieben, geschweige denn telefoniert haben, konnte ich nicht aus den Augen verlieren.
Vielleicht hoffte ich auch, dass sie war wie früher, dass sie sich nicht verändert hätte. Aber ich habe mich in der Zeit doch auch verändert, wieso sollte sie das denn auch nicht?
Dann stellte sich mir wieder eine Frage: Wie war sie früher? Meine Erinnerungen verschwammen mehr und mehr. Vieles wollte ich einfach nur vergessen.
Vergessen…
Es waren im Grunde genommen erholsame Wochen. Klar war es auch ein wenig stressig. Das ist der Schulanfang ja immer, aber auf meiner emotionalen Basis waren entspannend.
Ich grinste und lachte mal wieder – nach langer Zeit.
Aber ob ich wirklich glücklich war, kann ich nicht sagen. Es sollte noch nicht so sein.
Ich lehnte mich zurück. Deutsch. Wir besprachen gerade Dichter und Schriftsteller im Exil. Dazu lasen wir einige Werke und versuchten sie zu interpretieren, den politischen Umständen des 3. Reiches entsprechend.
Ein recht interessantes Thema, über das ich mir während dem Unterricht einige Gedanken machte. Doch heute konnte ich mich nicht konzentrieren.
Nervös spielte ich mit einem Stift zwischen meinen Fingern, ließ ihn vom Daumen und Zeigefinger über den Mittelfinger bis zum Ringfinger in einer abwechselnden Kreisbewegung hin und her gleiten.
Irgendwie fühlte ich mich komisch. Ich wusste, dass ich von ihm, der sich Anfang des Jahres neben mich saß, beobachtet wurde, aber heute fühlte es sich anders an, beobachtet zu werden. Also startete ich meine „Offensive“. Es war ein wenig gemein von mir gewesen, was ich plante, aber nur so konnte ich sein Verhalten besser verstehen.
Zunächst warf ich öfters einen Blick auf ihn, der manchmal zur Tafel sah und dann wieder für einen kurzen Moment mich anblickte. Unsere Blicke trafen sich nur kurz. Bestimmt bemerkte er es, dass ich ihn prüfte, wann immer ich nur konnte.
Danach ließ ich meinen Stift fallen. „Unabsichtlich“ natürlich.
Ich griff nach ihm, tastete auf dem Boden herum, doch was ich vor fand, war nicht mein Stift, sondern eine Hand.
Er setzte sich wieder auf und gab mir mit einem zurückhaltenden Lächeln den Stift wieder.
Er hatte zarte Hände, weiche Haut, die nicht aufgeraut vom Fußball oder ähnlichem Sport, wie es bei den anderen Jungs immer war.
Seine ganze Erscheinung war eigentlich zart. Er war nicht übermäßig muskulös und erinnerte mich eher an einen zu groß gewordenen 14-Jährigen. Außerdem hatte er noch keinen Bartwuchs wie andere aus der Klasse.
Er hatte hell braune Haare, die seine Stirn verdeckten, aber nur bis zu seinen Augenbrauen gingen. Sie kringelten sich ein klein wenig, doch richtige Locken waren es auch wieder nicht. Man könnte wirklich glauben, er wäre 14, doch sobald man mit ihm redete, oder ihn reden hat hören, wusste man sofort dass er älter war. Irgendwie hatte er etwas an sich, wie er sich Ausdrückte und in seiner Stimme, das ihn einfach wieder älter machte. Ein guter Ausgleich also.
Eines fiel mir noch auf.
Obwohl er so unscheinbar wirkte, so verletzlich, hatte er doch eine sehr starke Persönlichkeit, Beschimpfungen und Ausdrücke, Verarschungen und all so dies Zeug, steckte er locker Weg. Man konnte ihn nicht unterkriegen.
Doch war er in meiner Gegenwart etwas zurückhaltender, als wolle er sich vor mir zügeln.
Schnell fiel mir während meiner Beobachtung auf, dass heute etwas nicht mit ihm stimmte, ganz und gar nicht. Es war nicht so wie sonst, sondern… er war total nervös.
Aber auch wiederum nur in meiner Gegenwart, also hatte es etwas mit mir zu tun.
Ich überlegte mir lange Zeit ob ich ihn ansprechen sollte, auf seine Nervosität, tat es aber dann nicht, weil mir einfiel dass es zu viel von meinen analytischen Fähigkeiten zeigte, die ich nicht zeigen wollte.
Seufzend stützte ich meinen Kopf auf meine Arme. Aus dem Augenwinkel sah ich wie er etwas auf einen kleinen Zettel schrieb und ihn mir zu schob.
Ich nahm ihn und legte ihn in mein Mäppchen. Ich wollte den Zettel nicht vor ihm lesen, darauf wartete ich bis zur Pause.
Er wirkte etwas irritiert, dass ich den Zettel nicht gleich las. Aber das war mir in dem Moment egal.
Einige Minuten verstrichen noch, bis es zur Pause klingelte. Das Wetter war inzwischen so kühl geworden, dass es mir zu unangenehm war, draußen die Pause zu verbringen, obwohl ich doch so gerne die frische Luft roch. Ich blieb im Schulhaus und setzte mich an eine Wand. Wie in jeder Pause kam sie zu mir und wir sprachen über den Unterricht. Das wurde langsam schon zur Gewohnheit.
Ich fühlte, dass ich ihr alles anvertrauen konnte. Sie war nicht so eine die schnell Geheimnisse ausplaudert, das war sie noch nie. Und ich wette dass „unser“ Geheimnis auch ein Geheimnis blieb.
Trotzdem fühlte ich mich noch nicht bereit ihr alles zu erzählen.
Wie auch immer…
Ich erzählte ihr von dem Zettel und sie schnappte ihn sich und las leise vor:
Hey… du bist voll gut in der Schule, habe ich gemerkt… und da wollte ich dich fragen ob du mir vielleicht Nachhilfe in Mathe geben könntest? Ich warte nach der Schule in der Aula auf dich und deine Antwort…
Mathenachhilfe, grübelte ich. Ob das nur Tarnung war? Vielleicht schwächelte er wirklich in Mathe.
Ich redete mit ihr darüber, ob ich ihm Nachhilfe geben sollte oder nicht. Sie riet mir das nicht zu tun, genau aus dem Grund weil er von jedem für schwul gehalten wurde und er sich sicherlich auch an mich ran machen wollte. Ich konnte ihre Meinung verstehen, aber nicht akzeptieren. In so einem Moment hätte ich ihr am liebsten gesagt, dass ich es auch war, doch ich beließ es dabei und entgegnete ihr: „Aber ich bin doch so ein hilfsbereiter Mensch und wenn man mich schon so frägt, kann ich doch nicht nein sagen. Außerdem ist es mir egal ob er auf mich abfährt oder nicht…“
„Wenn du dich darauf einlassen willst“, waren ihre letzten Worte vor dem Gong zur nächsten Stunde, „es ist deine Sache, es war ja auch nur eine Warnung. Komm, wir haben jetzt noch eine Doppelstunde Kunst und danach zum Glück schon aus.“
Sie stand auf, grinste mich an, verschränkte ihre Arme hinter ihrem Kopf und ging ins Klassenzimmer um ihr Zeug zu holen. Ich folgte ihr und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Kunstsaal.
Das – und Sport – waren die einzigen Fächer in denen er nicht, bzw. nicht oft in meiner Nähe war. Also war es für mich eine Art Verschnaufpause für meine Beobachtungen. Ich bekam nicht viel davon mit, ob er ein großes sportliches Interesse hatte und ob er eine Vorliebe für Kunst hätte. Es blieb für mich ein kleines Geheimnis, das ich zwar lösen konnte, aber nicht wollte. Da bevorzugte ich doch die Überraschung.
Die zwei Stunden vergingen schnell und wie mir auf der Nachricht angeboten, ging ich in die Aula um ihm meine Antwort mitzuteilen.
Die Aula war groß. An den Seiten waren dicke, eckige Säulen die eine Art „2. Stock“ trugen. Man konnte am Eingang eine kleine Treppe nach oben nehmen und sich dort auf Stühle setzen. An der einen Wand der Aula war eine Art Tribüne für Theaterstücke oder große Bekanntmachungen der Schulleitung. Es war aber auch als ein simpler Raum für die Pausen gedacht. In den Ecken Standen große Topfpflanzen, die dekorativ wirkten.
Ich entdeckte ihn sofort. Er saß dort auf der Tribüne und schwenkte seine Beine nervös hin und her. Ein geprüfter Blick auf seine Uhr verriet mir, dass er wohl schon etwas wartete.
Meine Wenigkeit unterdrückte ein Grinsen und ging zu ihm hin.
„Hey…“, begrüßte ich ihn.
„Hey…“, antwortete er mir, mit einer deutlich nervösen Stimme.
„Klar kann ich dir Nachhilfe in Mathe geben, wann und wo?“, plapperte ich drauf los.
„Wenn es geht, bei dir zu Hause, ich habe 3 kleinere Geschwister, die immer nerven und in mein Zimmer rein platzen, nicht gerade der richtige Ort um Mathe zu lernen…“
„Bei mir? Wenn es sein muss“, gab ich von mir und grinste leicht, „… und wann?“
„Zweimal die Woche wäre praktisch, wie wäre es mit Dienstag und Donnerstag?“
„Geht klar“, fügte ich noch hinzu.
Ich hielt einen Moment inne. Zu neugierig darauf wie er reagieren würde, fragte ich zuletzt noch: „Freunde?“
Grinste ihn an und erkannte die Irritation in seinem Blick.
Die Röte stieg ihm ins Gesicht und er nickte schnell.
Dann ging ich.
Kapitel 6 – Lehrer und Schüler
Lauthals gähnend streckte ich mich in meinem Bett. Die Decke lag auf dem Boden. Sie war mir wohl während der letzten Nacht aus dem Bett gefallen. Aber das kümmerte mich nicht.
Ich öffnete mein Dachfenster und frische, kalte Luft zog durchs Zimmer. Ich fror nicht obwohl ich nur eine Boxershort an hatte.
Es war ein Samstag Mittag. Die Sonne schien prächtig und es zogen kaum Wolken über den Himmel.
Schade.
Ich beobachtete doch so gern die Wolken, wollte etwas in ihnen sehen, Formen, Gegenstände, Dinge. Doch heute blieb mir das wohl erspart.
Ich roch. Ich roch die frische Luft. Man merkte dass es allmählich kälter wurde und der Winter schon an der Türschwelle stand. Doch bis dahin war noch ein wenig Zeit.
Winter… Wie sehr ich mich schon darauf freute.
Ich hasste Winter. Sie waren mir zu kalt und nass. Richtigen Schnee gab es schon lange nicht mehr. Stattdessen fiel Matschschnee vom Himmel.
Deprimierend…
Ich seufzte laut auf und strampelte wild umher, sodass nun auch mein Kissen vom Bett fiel.
Dauernd depressiv zu sein ist wirklich keine schöne Sache.
Letzten Donnerstag saß ich im Bad, wie ich es üblicherweise tat, wenn ich einen meiner „Anfälle“ hatte und dachte nach, während ich meinen Körper mit blutigen Linien verzierte.
Ich musste wieder an letzten Sommer denken. Eine Zeit die ich nie vergessen werde.
Wie schön es war, neben ihm am Flussufer zu liegen, seine feuchte Haut auf meiner zu spüren und einfach das Leben zu genießen. Wie sehr ich es vermisste diesen Körper zu spüren und zu liebkosen.
Diese Befriedigung fehlte mir auch. Nicht dass ich süchtig danach war, aber dieses impulsive Zusammensein mit ihm, das vereinen beider Körper und die heißen innigen Küsse haben mich jedes mal in eine Ekstase versetzt, die mich gefühlsmäßig immer höher und höher trieben, bis über die Wolken und ich schwebte, in einem Meer aus Hormonen, Gefühlen und zärtlichen Berührungen.
In letzter Zeit versuchte ich es immer wieder mein Begehren nach Zweisamkeit mit ihm, durch Eigeninitiative zu stillen. Doch diese Sehnsucht konnte ich nicht genügend stillen. Denn das was ich währenddessen spürte, konnte man nicht mit jenen Gefühlen vergleichen. Also beließ ich es darauf, es nicht mehr zu tun.
Keine Lust mehr auf Gedanken!
Ich stand auf und ging ins Bad. Glücklicherweise hatte ich auf meinem Stockwerk ein Bad für mich allein, nur selten stöberte meine Großtante darin herum. Nur wenn sie putzen wollte.
Meine Klingen hatte ich gut versteckt. Als normalen Rasierer getarnt, konnte sie meine Großmutter nicht finden, beziehungsweise verstehen was ich damit sonst machen könnte außer mich rasieren.
Ich warf meine Boxer in den Wäschekorb und stieg in die Dusche, drehte den Hahn auf und mein Körper schreckte vor dem kalten Wasser zurück. Doch mich schockte es innerlich nicht. Ich drehte den Hahn auf Warmwasser und einige Sekunden später sprudelte schon das warme Wasser aus dem Duschkopf.
Nachdem ich mich richtig gewaschen hatte, kam wieder diese Versuchung. Es fällt mir schwer, es zu Beschreiben, was mich da treibt, es zu tun, aber ich stelle mir das immer wieder bildlich vor: Wenn ich die Klinge ansetze und ziehe, dann öffnet sich vielleicht meine Schutzhülle und ich hoffe jedes mal, dass meine Depressionen einfach aus dieser „Öffnung“ heraus fliegen.
Mit zitternder Hand griff ich nach der Packung Rasierklingen, hielt einen Moment inne und ließ es doch sein. Nicht heute.
Schon seit längere Zeit wollte ich dagegen ankämpfen. Die Narben machen sich nicht schön und was würde er darüber denken? Es war immer wieder ein Kampf meiner inneren Stimmen.
Außerdem war heute der Tag, an dem mich mein Nachhilfeschüler besuchen wollte.
Ich sprang aus der Dusche, trocknete mich ab, föhnte meine Haare und schlüpfte in frische Klamotten.
Einige Minuten später saß ich schon am Küchentisch und aß ein Brot.
Dann klingelte es.
‚Das muss er sein‘, dachte ich, schluckte den Rest Brot den ich im Mund hatte runter, ging zur Tür und öffnete diese.
„Hi…“, begrüßte er mich, mit einem sehr nervösen Eindruck und seinem Mathezeug unterm Arm.
„Hey, komm rein, wir können gleich anfangen…“, sagte ich und bat ihn rein.
Ich zeigte ihm, wo er seine Schuhe abstellen sollte und fragte dann noch, was er denn gerne zu Trinken hätte.
Mineralwasser war seine Antwort, also nahm ich gleich zwei Gläser und ein paar Flaschen mit nach oben.
Mein Großonkel und meine Großtante waren heute bei Freunden eingeladen und sie würden erst spät nachts heimkommen. Ein Glück eine freie Bude zu haben, nicht wahr?
Nicht dass ich es auf ihn abgesehen hätte, aber ich genoss es auch mal allein im Haus zu sein.
Aus dem Blickwinkel konnte ich erkennen, wie er das Haus, den Gang und dann schließlich mein Zimmer musterte. Er war wohl auch eher der neugierige Typ, wie ich.
Ich lachte innerlich und bot ihm dann an sich auf mein Bett zu setzen.
Setzte mich dann schließlich auch aufs Bett, nachdem ich noch mein Mathezeugs vorbereitet hatte.
Und so begonnen wir mit der Besprechungen diesem und jenem Thema, Stoff den er nicht ganz verstand. Ich versuchte es so gut wie ich nur konnte zu erklären. Anfangs hatte er noch einige Verständnisprobleme, doch mit der Zeit konnte ich ihm das Schema, mit dem ich die Aufgaben in Mathe bearbeitete, näher bringen.
Wir arbeiten hart. Sicherlich 3 Stunden am Stück. Wir redeten kaum über persönliche Dinge und er gab auch kaum irgendwelche Anzeichen, dass er auf mich stand, bis auf gelegentliches Rotwerden.
Nach etwas mehr vergangener Zeit – es war schon Abend und die Sonne stand tief am Horizont – hatte ich einfach keine Lust mehr. Für einen Tag hatten wir auch schon viel besprochen gehabt. Ich bot ihm an, etwas zu Kochen.
Er stimmte darauf ein und wir gingen in die Küche.
Das einzige was ich relativ gut Kochen konnte, waren Pfannkuchen, also rührte ich den Teig an und gab immer etwas davon in die heiße Pfanne.
Er beobachtete mich. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken.
Dann murmelte er plötzlich etwas vor sich hin, stellte sich neben mich und nahm die Pfanne, die ich in der Hand hielt, in die Hand.
„Du machst das ja ganz falsch, schau mal her“, sagte er und machte ein paar Handbewegungen, die mich zunehmend verwirrten.
Er drängte mich vollkommen vom Herd weg, in dem er mich mit seiner Hüfte zur Seite schob.
Ich hörte nur noch das Bruzeln des Teigs, das Geklapper des Pfannenwenders in der Pfanne und schon im nächsten Augenblick waren zwei Teller mit Pfannkuchen fertig.
Wir setzten uns an den Tisch und aßen.
Ich nahm einen Bissen, schluckte runter und sah ihn mit großen Augen an.
„Woher…?“, wunderte ich mich, und bevor ich zu Ende fragen konnte entgegnete er mir: „Tja, ein wenig Übung und Fingerspitzengefühl.“
Diese Pfannkuchen waren köstlich! Nie im Leben hätte ich so etwas leckeres hinbekommen können.
Er war ein richtiges Naturtalent, was das Kochen anginge.
Ich aß weiter und beobachtet ihn so unauffällig wie möglich. Irgendwie verließ mich nicht das Gefühl, dass er sich nicht traute mich anzusehn. Es wirkte auch so, als würde er über etwas Nachdenken. Aber da ich keine Gedanken lesen konnte, befasste ich mich damit nicht mehr.
„Wollen wir noch einen Film zusammen anschaun?“, bot ich ihm an.
„Klar. Gerne…“
„Was ist mit deinen Eltern?“
„Da brauchst du dir keine Sorgen machen“, sagte er in einem sehr ruhigen Ton.
„Nun denn…“, fügte ich dem hinzu und starrte auf seinen leeren Teller, „Dürfte ich?“
Er nickte, ich nahm den Teller und stellte ihn zusammen mit meinem in die Spülmaschine.
„Du kannst schon hoch gehen“, erwähnte ich.
„Ehm… ja… aber sag mal, wo ist das Klo?“, fragte er.
„Geh hoch zu meinem Zimmer, im Bad ist ne Toilette.“
„Danke…“
Er sprintete die Treppen hoch.
Dann räumte ich noch schnell das restliche Geschirr in die Spülmaschine und ging ebenfalls nach oben.
Dort angekommen schob ich einen guten Film in den DVD-Player und wartete bis er aus dem Klo zurückkam.
Es war einer meiner Lieblingsfilme, in dem die Heldin durch einen magischen Zauber alterte und auf der Suche nach einem sich durch Magie fortbewegendem Schloss auf so einige Abenteuer stieß. In diesem Schloss war ein mächtiger Magier, in den sie sich verliebte. Durch einige Komplikationen gab es dann aber am Ende doch ein Happy-End.
Ein spannender, dramatischer, lustiger und romantischer Film.
Ich saß mich vor das Bett, von dort aus hatte man die beste sich auf den Fernseher.
Er kam ins dunkle Zimmer und lag sich aufs Bett. Traute sich wohl nicht sich neben mich zu setzen.
‚Na ja, was soll´s‘, dachte ich mir und drückte auf Play.
Nachdem mehr als die Hälfte des Filmes vorüber ging, lag er sich so neben mich hin, dass unsere Köpfe auf gleicher Höhe waren.
Ich drehte mich zu ihm und grinste ihn an. Er grinste verlegen zurück. Ob er rot wurde konnte ich in der Dunkelheit nicht beurteilen.
Müdigkeit kroch durch meinen Körper und je länger der Film noch anhielt, desto schwerer wurden meine Augenlider.
Irgendwann schlief ich ein und merkte nicht was um mich herum noch geschah.
Plötzlich wachte ich auf.
Draußen und auch in meinem Zimmer war es stockdunkel. Ich lag auf meinem Bett, hatte noch meine Klamotten an.
Ich erinnerte mich, dass ich eingeschlafen war, doch wo war er? Ist er gegangen? Ich tastete mein Bett ab, doch ich fühlte nichts. Ich setzte mich auf und erkannte eine Silhouette auf dem Boden.
Ob er das war?
Ich versuchte aufzustehen, doch ich rutschte aus und knallte auf eine Person. Zufällig landete ich mit meinen Lippen genau auf seinen.
Wie weich sie sich anfühlten…
In diesem Moment wachte er auf und schubste mich von seinem Körper.
„Was.. eh… wie…“, stotterte er und richtete sich auf.
„Oh, nein! Entschuldigung! Das ist ein Missverständnis! Ich… ich… ich bin ausgerutscht auf auf dich drauf gefallen!“
‚Oh Gott…‘, stammelte ich innerlich vor mir her.
„Ach.. mach dir keinen Kopf, das… passiert jedem Mal, nicht wahr?“, er hörte sich verwirrt an.
„Was… ist eigentlich passiert? Ich bin eingeschlafen, oder?“
„Ja… ich habe dich dann auf dein Bett gelegt…“
„Und warum hast du mich nicht aufgeweckt?“
„Du… ehm… ich war auch müde und kurz nachdem du… ehm… eingeschlafen bist… ehm, bin ich auch eingeschlafen…“
Er log, das spürte ich sofort.
„Nunja… jetzt ist es auch zuspät für dich nach Hause zu gehn“, bemerkte ich als ich auf die Uhr sah.
„Es… stört dich doch nicht, dass ich…“
„Nein“, unterbrach ich ihn, „Ist schon in Ordnung. Lang her seitdem ein Freund bei mir übernachtet hat.“
Ich lag ein falsches Grinsen auf.
In Wirklichkeit sah ich die Bilder des Sommers wieder vor meinem inneren Auge vorbeiziehen. Unauffällig krallte ich mich mit meiner linken Hand in meinen rechten Oberarm.
„Du kannst gern eine gemütliche Hose von mir haben… Wart ich hol dir eine, du kannst dich ja währenddessen ausziehen, ich schau auch nicht hin“
„O… Okay“, stotterte er und stand auf.
Ich ging zum Schrank und versuchte eine gemütliche Hose für ihn zu finden.
„Mhhh“, murmelte ich, „Die könnte dir passen…“
In der Dunkelheit des Zimmers tastete ich mich vorsichtig zu ihm hin und versuchte schon einmal probehalber ihm die Hose hinzuhalten um zu schauen, ob sie ihm auch passte.
Leider bemerkte ich nicht, dass die Hosenbeine zu lang waren, so rutschte ich – wie das Schicksal es anscheinend wollte – wieder aus und knallte gegen ihn und zusammen fielen wir auf mein Bett.
Was für eine peinliche Situation dies war!
Ich merkte wie eine Hand auf seiner Brust lag und die andere auf seinem Schritt.
Zudem merkte ich auch noch, wie sehr sein Herz pochte und seinen Atem spürte ich auch.
Er warf plötzlich seinen Arm um mich und sein Gesicht näherte sich meinem. Meine eine Hand verspürte, wie sich ein gewisser Körperteil versteifte.
„Machst du das mit Absicht…?“, flüsterte er mir zärtlich ins Ohr, strich die Haare aus meinem Gesicht und näherte sich noch mehr.
Ich wollte mich nicht wehren.
Es fühlte sich so toll an, wieder jemand anderem an sich zu fühlen.
Ob es nur eine sexuelle Begierde war, die in mir sprach? Oder ob es eher das Gefühl war, wieder jemanden an meiner Seite zu spüren und zu wissen nicht mehr allein sein zu müssen.
Ein unbeschreibliches Gefühl bebte durch meinen Körper und meine Narben brannten leicht.
War das ein Zeichen? Konnte ich nun endlich Vergessen und mich dem Fluss des Lebens wieder hingeben? Ich hatte keine Lust mehr am Ufer zu sitzen, ein Floß mit spitzen Steinen zu schnitzen und zu merken, dass das auf das ich einschlug nicht irgendwelche Baumstämme waren, sondern meine Arme.
Er näherte sich immer mehr und dann … küsste er mich zärtlich.
Was war mit mir los? Ich genoss es, aber ich genoss es wiederum nicht. Tausende Gedanken tobten durch meinen Kopf und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Also gab ich mich einfach dem Geschehnis, dem Kuss und den zärtlichen Streicheleien an meinem Rücken hin.
Seine Zunge bahnte sich den Weg zu meiner und sie forderte mich auf mit zu spielen.
Ich ließ mich auf dieses „Spiel“ ein.
Unsere Atmung wurde immer heftiger und dann kam er auf die Idee, mir mein Oberteil auszuziehen.
Er zog das Shirt über meinen Kopf und legte es beiseite. Dann küssten wir uns wieder heiß und innig.
Eine Hand schob er in meine Unterhose. Diese Hand fühlte sich so weich an, als sie über eine meiner Pobacken glitt.
Ich wurde immer erregter, so wie er es wurde.
Seine andere Hand wuschelte mir durch die Haare, kraulte mir den Rücken und kitzelte meine Seite, das in einer unregelmäßigen Reihenfolge.
Irgendwann glitt dann auch meine Hose nach unten und wir beide lagen in Boxershorts neben-, beziehungsweise übereinander.
Meine Hand glitt über seine Brust zu seinem Hals, kraulte mal hier mal da.
Es war ein Spiel von zärtlichen Berührungen die einen immer und immer mehr erregten.
Sanft glitt er mit seinen Lippen über mein Kinn zu meinem Hals und küsste diesen. Immer und immer wieder.
Ich schnaufte.
Er schnaufte.
Ich wollte nicht aufhören.
Er wollte anscheinend auch nicht aufhören.
Aber wieso?
Was brachte mich dazu, nicht Stopp zu sagen? Wollte ich überhaupt… oder war es nur ein Verlangen meines einsamen Körpers.
Will nicht jeder eine Person an seiner Seite, die einen mal zärtlich berührt und liebkost?
Was war so falsch daran seinen Gelüsten nachzugehn?
Ich wollte doch nur wieder wissen, wie es ist geliebt zu werden, ich wollte wieder wissen wie man liebt… ich wollte…
Wir steigerten uns immer mehr in diese Erregbarkeit hinein, bis wir kamen. Fast simultan gaben wir ein leises Stöhnen von uns.
Erschöpft ließen wir uns ins Bett fallen.
Arm in Arm schliefen wir dann ein.
Kapitel 7 – Ändert sich jetzt alles?
Es schlug immer und immer wieder gegen mein Dachfenster.
Zögernd öffnete ich meine Augen und erkannte, dass es in Strömen regnete. Die Tropfen prasselten auf mein Fenster. Die Melodie, die dadurch entstand, hörte sich so schön an.
Es war kühl, zu kühl für meinen Geschmack.
Ich rekelte mich in meinem Bett, drehte mich einige Male hin und her und fand dennoch keine gemütliche Pose.
Was war das auch für eine Nacht gewesen.
Halt!
Vergangene Nacht… er und ich und… was ist geschehen?
Ich versuchte mich zu erinnern.
Schliefen wir beide nicht ein, wachten in der Nacht auf und…
War das nur ein Traum?
Ich sah mich um.
Wo war er nur hin?
Vergeblich suchte ich mein Zimmer, das Bad und das ganze Haus nach ihm ab.
Auf dem Weg zur Küche traf ich auf meinen Großonkel.
„Guten Morgen, auch schon wach? Schon mal auf die Uhr gesehen?“, grüßte er mich und lachte herzhaft.
Ein kurzer Blick verriet mir, dass es schon längst Nachmittag war.
‚Verdammt‘, dachte ich mir und sprintete hoch in mein Zimmer.
Ist er einfach so gegangen?
Wahrscheinlich.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen.
Sonntag. Kein großer Tag um etwas großartiges zu machen. So entschied ich mich einfach fürs Faulenzen. Schnell schnappte ich mir die Fernbedienung des Fernsehers und kuschelte mich unter meine noch warme Decke. Doch ablenken konnte mich der Fernseher nicht.
Mir ging die vergangene Nacht nicht mehr aus dem Kopf.
Geschlafen hatte ich ja mit ihm zum Glück nicht. Es war doch eher Petting, oder wie man das auch immer nennen konnte.
Es fühlte sich toll an, sagte mir meine Erinnerung, doch im Nachhinein war ich nicht mehr in der Lage dies wirklich zu beurteilen.
Was zur Hölle trieb mich dazu, mich gehen zu lassen?
Dieses Gefühl verließ meine Magengegend nicht. Ob ich mich nach mehr sehnte?
Verdammt!
So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Weder wollte ich sie treffen noch eine weitere Beziehung eingehen. Alles war plötzlich so verdreht. Was sollte ich nur tun, wie sollte ich mich morgen vor ihm verhalten? War es nur der Spaß zwischendurch? Oder wollte er etwas ernsteres daraus entwickeln, oder wollte ich das?
Ich war mehr als verwirrt.
Ich drehte den Fernseher lauter, um meine Gedankenstimme zu übertönen und versuchte mich krampfhaft auf das Programm zu konzentrieren. Es half ein wenig.
Was ist nun mein nächster Schritt?
Meine Gedanken klärten sich etwas.
‚Es kann doch gut sein, dass er morgen wieder normal ist…‘, dachte ich mir, ‚Und um sie brauche ich mir auch keine Sorgen machen, oder doch? Sie war ja schon so aufbrausend, egal bei was. Aber das muss ja nicht heißen dass ich mich noch einmal auf so etwas, wie damals, einlassen muss, oder? Wer hat denn überhaupt behauptet dass sie immer noch etwas von mir will? Mein Augenmerk sollte nun eher auf ihm liegen. Fühle ich überhaupt was für ihn? Ach verdammt! Was ist nur mit mir los!?‘
Ich stand auf, ging ins Bad und nahm eine Hand voll kaltem Wasser und rieb mir die ins Gesicht.
Ich ging wieder zurück in mein Bett.
Es war zwar schwer, aber ich versuchte die ganze Sache zu ignorieren, nein doch eher die nächsten Tage abzuwarten, wie er weiterhin reagieren würde.
Den restlichen Abend blieb ich nur in meinem Bett liegen und sah fern. Die Hausaufgaben für die Schule hatte ich am Freitag schon erledigt, also brauchte ich deswegen keine Sorgen zu haben.
Kapitel 8 – Gedankweilt
Da saß ich nun im Unterricht, konnte ihm aber kaum folgen.
Meine nervigen Gedanken ließen sich genauso leicht ablenken, wie ein räudiger Köter von einem verdammten Stecken.
Er saß da, wie immer, grinste mich normal an und redete auch so, als wäre nichts geschehen. Was sollte das?
Hatte er so etwas schon öfter durchgezogen, war er das einfach schlichtweg gewohnt?
Für mich war es immer noch so, wie beim ersten Mal. Diese Aufregung und die Gedanken die man danach hat.
Ich traute mich kaum, ihm direkt in die Augen zu sehen und seufzte innerlich immer wieder auf.
Es läutete zur Pause und ich verkroch mich sofort in meine Lieblingsecke des Pausenhofes.
„Na, wie war dein Wochenende?“, erkundigte sie sich, neugierig wie sie war, als sie mir entgegenkam und die provisorische Milch in die Hand drückte.
„Ich… ach, ehm..“, ich war verlegen, deswegen stotterte ich ein wenig vor mich hin, „es war einfach langweilig.“
„Ach ja?“, fragte sie mit übertriebener Stimme, stütze ihre Hände auf den Boden vor meinen Knien und kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meines, „Du bist plötzlich ganz rot!“
„Ach was!“, protestierte ich und wendete mich ab.
Schmollend schlürfte ich an meiner Milch, während sie sich wieder normal hinsetzte und bedrückt in den Himmel sah, „Nun gut, wenn du mir nichts von deiner Angebeteten erzählen willst…“
Angebetete? Ich stand doch nur auf Jungs.
„HALT! Was soll das hier heißen, ANGEBETETE!?“, brüllte ich und warf ihr im nächsten Moment die leere Milchpackung an den Kopf.
„Ich schlafe nicht mit jeder dahergelaufenen Person, falls du das ausdrücken willst!“
Das war genug, gereizt wie ich schon war, stand ich auf und ging wieder ins Schulgebäude, was ich sowieso hätte tun müssen, da die Pause in diesem Moment zu Ende ging.
Ich wusste, dass dies nicht stimmte. Das Ereignis des vergangenen Wochenendes war ja Beweis genug.
Wutentbrannt stampfte ich zum nächsten Klo, ich brauchte einfach einen Schwung kaltes Wasser ins Gesicht.
Gerade, als ich die Tür zum Jungsklo aufreißen wollte, wurde sie mir auch schon entgegen geknallt.
Ich schrie kurz auf und landete auf meinem Allerwertesten.
„Oh nein! Das tut mir Leid!“, entschuldigte sich eine mir bekannte Stimme, „Du blutest ja!“
Er war es. Ausgerechnet auf dem Klo musste er sein.
…
Ich blutete?
Vorsichtig tastete ich mein Gesicht hab und merkte, wie feucht es an meiner Oberlippe war.
„Ja ich blute“, sagte ich mit ruhiger Stimme, „aus der Nase, na da schau her!“
Seufzend richtete ich mich auf und ging an ihm vorbei direkt ins Klo, wo ich mir das Blut aus dem Gesicht wusch.
Als ich mich wieder aufrichtete, erschrak ich fast, da ich im Spiegel sah, wie er hinter mir stand.
Sein Blick…
Er wirkte diesmal nicht so wie immer, gut gelaunt oder so, nein seine ganze Art strahlte Traurigkeit und Reue aus. Dieser schuldige Blick es war… es war einfach so süß.
Schlagartig stieg mir die Röte in den Kopf und mein Nasenbluten fing wieder an.
„Oh!“, rief ich auf.
Nun wusch ich mir das Blut nochmal von den Lippen und stopfte mir provisorisch zusammengeknüllte Taschentuchfetzen in die Nase.
„Du…“, meinte er, „wir sollten langsam ins Klassenzimmer zurück.“
Im nächsten Augenblick packte er meinen Arm und zerrte mich aus dem Klo.
„Ich weiß doch, dass du es nicht leiden kannst, wenn man zuspät kommt!“
Ab diesem Augenblick war ich geschockt.
Seine Hand drückte nicht fest, sie berührte mich zärtlich aber bestimmt. Seine Stimme hatte auch etwas so starkes und schwaches an sich. Schwer zu beschreiben.
Es wunderte mich auch, dass er dies von mir wusste, denn um mal ehrlich zu sein, persönlich hatten wir noch nicht großen Kontakt. Außerdem passte ich in letzter Zeit auch auf, nicht zu viel von mir preiszugeben.
Wie machte er das? Wie schaffte er es mich gleich so zu verstehen und überhaupt…
War er das? War das seine wirkliche Person oder spielte er das nur, wollte er mich verführen!?
Ehe ich meine Gedanken wieder klar Ordnen konnten befanden wir uns schon im Klassenzimmer.
„Ein Glück!“, grinste er mich an, „Gerade noch rechtzeitig!“
Wir setzten uns und kurze Zeit später betrat unser Mathelehrer das Klassenzimmer.
„Guten Tag“, begrüßte er uns, „Ihr wisst, in ein paar Wochen schon schreiben wir den großen Test vor der Abschlussprüfung, dann machen wir mal weiter mit dem Stoff…“
Ein großes Seufzen machte sich in der Klasse breit.
Ich grinste nur leicht und wand mich dem Unterricht zu. So gut es ging zumindest.
Die letzten zwei Stunden hatten wir nun Mathe. Die Aufgaben kamen mir heute irgendwie leichter als sonst vor, umso besser für mich.
Ich wollte auch nicht mehr über bestimmte Dinge nachdenken. Es war einfach zu anstrengend für mich und ich kam ja sowieso auf keinen grünen Punkt.
In der Schule ausnahmsweise mal aufzupassen war ja auch nicht so verkehrt, oder?
Also konzentrierte ich mich auf die Aufgaben, die ich wie gesagt leicht lösen konnte und beteiligte mich auch im Unterricht mit.
Nach den zwei Stunden packte ich mein Zeug zusammen und ging den Weg nach Hause.
Was für ein Tag, es war mal wieder bewölkt. Man merkte auch, dass es immer kälter wurde und der Winter immer näher kam.
Heute blieb ich auf der Brücke stehen. Diese Brücke hatte irgendetwas magisches an sich und ich mochte es die Enten zu beobachten, die von alten Herren und Damen mit Brotkrümeln gefüttert wurden. Ab und zu rannten auch kleine Kinder umher, scheuchten die Enten auf oder warfen auch mit Brotkrümeln umher. Erst letztens hatte ich einen kleinen Jungen beobachtet, der es ja fast geschafft hätte, ein ganzes Laib Brot auf eine Gruppe Enten zu schmeißen, es jedoch nicht getan hatte, weil es seine Mutter noch im letzten Moment verhindern konnte.
„Da bist du ja!“, schnaufte er und lehnte sich neben mich auf das Geländer der Brücke.
Sein Atem gefror in der Luft.
„Wollten wir heute nicht zusammen Mathe machen?“
Ich blickte ihn an, wie er schnaufend da stand.
Erst konnte ich nichts sagen, doch dann fiel es mir auf.
„STIMMT! Das habe ich ja total vergessen!!“, stieß es aus mir heraus und die erschreckten Enten flogen davon, „Tut mir Leid doch ich hatte so viel um den Ko…“
„Schon gut“, unterbrach er mich und setzte wieder diesen Blick auf.
Stille.
Ich sah ihn an und er sah mich an.
Keiner traute sich dieses Schweigen zu durchbrechen.
Doch nach einigen Augenblicken merkte er an: „Wollen wir jetzt nicht … langsam zu dir? Es ist kalt…“
„Oh ja! Dann gehen wir zu mir!“, antwortete ich verlegen.
Wir liefen gemeinsam zu mir.
Er direkt neben mir und ich neben ihm. Ich war rot im Gesicht, das spürte ich, doch versuchte es so gut wie möglich zu verbergen. Er steckte nur seine Hände in seine Jackentasche und starrte in die andere Richtung. Ob er das gleiche zu verbergen hatte wie ich?
Kurze Zeit später waren wir auch angekommen, meine Großtante begrüßte uns mit der Nachricht, dass es gleich Essen geben würde. Sie wusste wohl, dass er kam, denn ein extra Teller war gedeckt worden.
Wir aßen schnell und verzogen uns ohne ein großes Gespräch anzufangen in mein Zimmer.
„Dann fangen wir mal an…“, sagte ich während ich mein Mathebuch aufschlug.
Ich erklärte ihm was für Übungen wir heute machen würden erklärte ihm wie dies und jenes ablaufen würde.
Es war eigenartig. Er distanzierte sich etwas von mir, wollte mir wohl nicht zu sehr auf die Pelle rücken. Nun ja, nicht dass er jeglichen Kontakt sofort vermeiden würde, aber ich bemerkte, dass er einfach etwas vorsichtiger war.
Er drängte sich nicht auf oder überrollte mich, wie auch immer man das sonst benennen sollte. Um ehrlich zu sein, fand ich es zwar irritierend, aber doch recht angenehm.
‚Wirklich ein recht komisches Gefühl‘, dachte ich mir.
Plötzlich klingelte sein Handy mit einem extrem Schrillen Klingelton, ich erschrak und vor Schreck viel ich direkt vom Stuhl auf ihn drauf.
Eine Peinliche Situation.
Das Handy verstummte.
„Nur meine Mam“, entschuldigte er sich, „nichts wichtiges…“
Er grinste mich an, Schadenfreude oder doch… ?
Nein das bildete ich mir ein! Oder doch nicht?
Ich versuchte wieder aufzustehen, doch im letzten Moment hielt er mich fest und zog mich wieder nach unten.
„Es tut mir Leid, wegen heute in der Pause“, flüsterte er mir ins Ohr und schon platzierte er seine Lippen auf meinen.
Warum?
Warum küsste er mich?
Warum konnte ich nicht widerstehen?
Warum ließ er nicht los?
‚ARG!‘, dachte ich mir und riss mich los.
„Tut… tut mir Leid“, stotterte ich.
„Nein, es tut mir Leid…“, sagte er in einer monotonen Stimme und setzte sich auf.
Mein Herz pochte und mein Gesicht errötete. Was war das für ein Gefühl? Es machte mir Spaß, wie letztes Wochenende, doch… doch was war dieser ausschlaggebende Punkt?
Ich konnte doch nicht verknallt, geschweige denn verliebt sein, ich kannte ihn doch überhaupt nicht richtig… außerdem will er nur mit mir schlafen und…
„Ich werde nun besser gehen…“, erwähnte er, packte sein Zeug zusammen und stand auf.
„Halt warte!“, stieß es aus mir heraus.
Er blickte mich an, mit diesem Gesicht.
„Mh?“
„Ich… ich…“
„Ja?“
Ich brachte kein Wort raus und er ging.
Da saß ich nun in meinem Zimmer, zitternd mit einem heftig pochendem Herz.
„… ich will nicht, dass du gehst“, stammelte ich noch vor mich hin.
Kapitel 9 – Seitenwechsel
Ein neuer Schultag.
Ich saß im Unterricht und seufzte. Mein rechter Platz war frei. Der Grund war einfach zu erklären, er war nicht etwas krank, machte blau oder so etwas in der Art, nein ein anderer Junge war krank und er setzte sich zu seinen Kumpels nach hinten.
Ob sie wirklich seine Freunde waren, konnte ich nicht beurteilen. Nachdem was ich über ihn hörte, konnte ich mir das zwar kaum vorstellen, aber möglich war doch alles in dieser riesigen Welt.
Man konnte auch nicht sagen, dass ich im Unterricht saß. Ja, mein Hintern befand sich schon auf einem Stuhl, aber heute war ein Lehrer ausgefallen, weswegen wir nun eine langweilige Vertretungsstunde hatten.
Ich kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, tat mein Bestes um meine Gedanken zu ordnen und das dumme Gelächter der bescheuerten Jungs aus der letzten Reihe zu ignorieren.
‚Jungs…‘, dachte ich mir und bemerkte, dass ich schon seit fünf Minuten auf der gleichen Stelle meines Blattes herum kritzelte.
‚Zum Glück machen wir heute keine Nachhilfe‘, führte ich meine Gedanken fort, ‚Ob er es sich überhaupt noch traut? Ich mein ich habe doch nichts falsches getan, oder? Es war doch sein blödes Handy, das plötzlich klingelte und mir einen Schrecken versetzte, sodass ich vom Stuhl fiel.“
Unterbewusst zeichnete ich ein kleines Handy, das in jedem Augenblick von einem Stuhl-Monster aufgefressen werden konnte, dessen riesigen monströsen Zähne bedrohlich hervor gefletscht wurden.
Ich seufzte. (Mal wieder XD)
Wieso musste man mir so den Kopf verdrehen, dass ich nicht mehr in der Lage war klar zu denken?
„BUH!“, erschreckte sie mich während sie mir mit den Fingerspitzen in die Seite piekste.
Ich schreckte hoch und lies einen Schrei aus mir raus, der ein Massengelächter in der Klasse auslöste.
„Was sollte das!?“, beschwerte ich mich.
„Wollte doch nur sehen was du machst“, lachte auch sie und beugte sich zu meiner Zeichnung hinunter, „du zeichnest?“
„Mir ist langweilig, was soll ich schon groß machen…“
„Was ist überhaupt los mit dir? In letzter Zeit bist du so in dich zurückgezogen, sonst bist du doch nicht so“, erkannte sie und setzte sich neben mich auf den freien Platz.
‚Wenn sie wüsste‘, dachte ich mir und sagte: „Ach, es ist eigentlich gar nichts…“
„Gar nichts? Sieht aber nicht so aus.“
„Ja, gar nichts…. Das ist es ja! Es passiert kaum etwas in meinem Leben und…“
„Das können wir doch schnell ändern! Komm doch mit uns am Samstag in die Stadt, wir machen ein paar Läden unsicher! Wird bestimmt lustig.“
„Mhhh, weißt du, mir liegt das gar nicht so, mit weggehen und wilde Partys feiern…“
Ja das stimmte. Partys fand ich einfach nur bescheuert. Zu viele Menschen auf zu wenig Platz. Das Gedränge, der Lärm, keine Umgebung in der ich mich wohl fühlen würde.
„Wir können auch in ein Café gehen“, schlug sie vor, „Oder noch besser in ein Kino!“
Filme ansehen, ja das war wirklich noch in Ordnung.
„Ich gebe dir am Samstag Bescheid, mein Großonkel und meine Großtante wollten eventuell etwas mit mir unternehmen, deswegen kann ich da auch gerade nichts klar machen…“
„Ja ist okay, aber ich warte verbindlich auf eine Antwort von dir.“
Ich grinste nur noch und wand mich wieder zu meinen Kritzeleien. Sie stand auf und setzte sich zu ihren Freundinnen.
Anscheinend hatte sie nicht mitbekommen, dass ich log, ich hoffte es zumindest.
Trotzdem weckte dieses Angebot in mir eine Lust. Im Kino war ich schon lang nicht mehr und solang ich nicht allein mit ihr dort hingehen musste, brauchte ich also keine Angst haben, dass irgendetwas passieren könnte. Vielleicht würde dies mich sogar von einer gewissen Person ablenken.
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit und mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Ich drehte mich um und erkannte dass genau diese Person am lautesten von allen lachte.
‚Arg!‘
Ich sah wieder auf meine Zeichnung und verpasste dem Stuhl-Monster mit einer Rot ein noch blutigeres Aussehen als vorher.
‚Macht es ihm nichts aus? Gestern sah er doch so schuldig aus und heute!? Ach, er macht sich sicherlich keine Gedanken… Ich bin für ihn genauso wie ein Atemzug für einen Wal, es reicht zwar für ein paar Stunden, aber dann kommt der nächste. Wieso mach ich mir eigentlich so viele Gedanken? Das hat doch alles nichts bedeutet! Oder doch… Ich fühle doch, dass es mir gefallen hat… Bin ich etwa verliebt? In DEN da!? Das ist doch nicht möglich, ich meine… er… und… ich… bin doch noch nicht mal das Oregano auf seiner Pizza, ein Kekskrümel in seiner Kekspackung, bin nicht die Play-Taste seines MP3-Players, geschweige denn eine wichtige Person in seinem Leben.‘
Ich setzte den Stift ab, stand auf und schlenderte aufs Klo.
Nach etwas verstrichener Zeit kam ich an und setzte mich sogleich in eine Kabine.
Kurze Zeit später hörte ich wie die Tür aufging und einer ins Pissoir pinkelte.
„Es tut mir Leid“, sagte die Person und an der Stimme erkannte ich sofort wer es war.
Als ich es nun endlich auch realisierte, dass er sich entschuldigte, entschied ich mich dafür nichts zu sagen und nur zuzuhören.
„Ich hätte gestern nicht so aufdringlich sein sollen.“
Meine Wenigkeit wollte immer noch nichts sagen.
„Nun… ich hätte bestimmte Dinge nicht machen so dürfen…“
„Ich hätte auch Nein sagen können“, warf ich ein, ohne das ganze auszuschweifen.
Nun hörte ich, wie er sein Geschäft beendete, seine Hände wusch und ging.
Ob er es verstanden hatte?
Hoffentlich hatte er das, Missverständnisse wären in so einer Situation wirklich nicht angebracht.
Ich verbrachte noch ein wenig Zeit auf dem Klo, wusch mir dann auch meine Hände und ging zurück ins Klassenzimmer, die nächste Stunde war kurz davor zu beginnen.
Es war Kunst und wir sollten ein neues Thema zeichnerisch und/oder malerisch umsetzen.
„Mein Traum“ schrieb unser Lehrer an die Tafel.
„Ihr sollt ein Bild gestalten, dass einen Traum von euch zeigt, egal ob ihr ihn geträumt habt, oder ob es ein Wunschtraum ist. Das dürft ihr frei gestalten wie ihr wollt. Strengt euch aber an, die Bilder werden am Ende benotet!“, erklärte er und bereitete Farben und Pinsel vor.
Ich entschied mich für ein Crossover, bestehend aus Bleistiftzeichnung und Malerei, das bedeutete, dass ich das Motiv skizzierte, es kolorierte und anschließend noch einmal die Feinheiten mit Bleistift nachzeichnen würde. Das Motiv war ein Junge, der auf einer gelb und orange schimmernden Wolke saß und nach unten blickte. Das Einzige was man noch sehen konnte, war eine Leiter, die jemand gerade versuchte gegen die Wolke zu lehnen, damit diese Person dann hinauf klettern konnte.
Kapitel 10 – Großbildschirm
Der Samstag morgen war wie jeder andere.
Ich stand auf und mein knurrender Magen begleitete mich mit ins Bad. Nachdem ich meine Unterhose auszog, stieg ich unter die Dusche.
Das warme Wasser fühlte sich angenehm an und ich ließ mir einige Dinge durch den Kopf gehen.
Welchen Film wir wohl schauen wollten?
Ich hörte dem Gespräch mit ihr zwar zu, aber mir merken konnte ich es nicht.
Vielleicht der neue Actionfilm?
Mochte sein, konnte mich nicht daran erinnern.
So griff ich nach dem Shampoo, versuchend mich von jeglichen Gedanken zu befreien und shampoonierte mein Haar. Eine Schauminsel rutschte an meiner rechten Augenbraue vorbei und direkt in mein Auge.
Es brannte und ich spülte es hinfort.
Das Duschgel war blau und entgegen meiner Erwartungen, hatte es keinen minzig-mentholen Geruch.
Mir stellten sich die Haare auf, als das kühle Gel von mir auf meinem Körper verteilt wurde.
Ich genoss das Duschen.
Es dauerte nicht lange und schon war ich wieder angezogen und saß an meinem Schreibtisch.
Mit der Fernbedienung startete ich die provisorische Lieblings-CD in meinem CD-Player, die manchmal den ganzen Tag lief, oder die ich manchmal anschaltete und nach zehn Sekunden wieder ausschaltete.
So lauschte ich meiner Lieblingsband, während ich mir überlegte wann doch der Treffzeitpunkt war.
Um 14 Uhr? 15 Uhr? Nein, das war doch zu früh.
Aus einer meiner Schubladen zog ich ein Papier und kritzelte darauf herum.
Ich wippte auf dem Stuhl, der Stift abwechselnd in meinem Mund und zwischen meinen Fingern, die Melodie summend und meinen Gedanken verfallend und kam letztendlich zu dem Schluss, dass ich der war, der den Zeitpunkt festlegen sollte.
Also nahm ich mein Handy und tippte die Sms:
„Hi. Heute habe ich doch Zeit und wir können ins Kino. Ist 18 Uhr für dich ok? Welchen Film wir sehen ist dir überlassen, Grüße“
Es dauerte nicht lange und ich bekam eine Antwort:
„Geht klar, treffen uns um 18 Uhr am Kino, freue mich schon ;)“
Um 18 Uhr am Kino, das dauerte noch lang genug.
Anscheinend war mir so langweilig, dass ich Geschichten zeichnete.
Einfach so, ohne groß zu überlegen.
Da war ein kleiner Junge, mit einer Baseballkap auf und einem Staubsauger im Schlepptau. Er saugte die Wiese, auf der gerade ein viereckiger Hase und ein Toastbrot genüsslich Tee tranken. Im Hintergrund schwang sich ein großer Affe von Telefonmast zu Telefonmast. Er wollte etwas von der Bananentorte, die eine gigantische Pommes gerade servierte …
Ach, wieso kam ich denn plötzlich auf solche Ideen?
Aber es war immerhin besser als an einen gewissen Jemand zu denken, der gerade sicher an mich dachte.
Ich bekam Magenknurren.
Von dem nervigem Schmerz meines Magens begleitet, ging ich zur Küche und nahm mir etwas zu Essen mit.
Oben angelangt saß ich mich wieder an den Schreibtisch und zeichnete weiter um meine Gedanken zu sortieren.
Doch egal an was ich dachte, drehte ich mich im Kreis und kam immer wieder zu ihm.
Verdammt nochmal!
So etwas konnte ich heute wirklich nicht gebrauchen.
Wäre doch dieser Kuss nicht gewesen, diese Nächte und … diese Gefühle.
Fühle ich jetzt doch etwas für ihn?
Sein Haar, sein Gesichtsausdruck und sein süßes Lächeln. Er war kein Mädchen, er war ein Junge, doch hatte er „es“ an sich.
Es pochte schon wieder.
„Kannst du nicht einmal aufhören so wild zu pochen? Du dummes Herz!“, schimpfte ich mich selbst.
Wutentbrannt griff ich nach der Fernbedienung und drehte die Musik lauter, packte danach meinen Stift und kritzelte was das Zeug hielt.
So wurde der Junge mit der Baseballkap und dem Staubsauger von Aliens in fliegenden Waffeln angegriffen, der viereckige Hase von monströsen Killerwalpferden bedroht und der Toast von Tauben gepickt.
Die örtliche Kirche schlug 18 Uhr.
Ich stand in der Kühle vor dem Kino und wartete auf mein heutiges „Date“ – so würde sie es zumindest bezeichnen, meiner Meinung nach.
Kurze Zeit später kam sie auch, begrüßte mich und wir gingen beide in das Gebäude.
Ich fragte ihr wie es ihr ginge, sie antwortete und fragte mich das gleiche.
Smalltalk.
Am Kartenschalter überlegten wir uns, was für ein Film wir sehen wollten. Nun ja, eigentlich war es doch ihr überlassen, welchen Film wir schauten.
„Zweimal am Ende des Horizonts, bitte“, sagte sie.
Der Verkäufer sah uns an.
„Wollt ihr einen Doppelsitz, bei diesem tollen Liebesfilm?“, fragte er und zwinkerte mir zu.
‚Ach du Heilige!‘, wiederholte ich ständig in meinen Gedanken.
Und wäre diese Situation nicht schon schlimm genug gewesen, antwortete sie mit einem „Ja“ und wir bekamen unsere Karten.
Sie kaufte sich Popcorn und etwas zu trinken, ich nahm mir nur eine Cola.
Innerlich seufzend lief ich neben ihr her, suchten unseren Saal und dann unsere Sitzplätze.
Alles verging so schnell.
Es war, als bildeten meine Gedanken eine Art schwarzes Loch, dass die Zeit so schnell vergingen ließ, dass es mir nicht mehr bewusst war.
Mir war dafür etwas anderes bewusst geworden.
Ein Liebesfilm, was könnte das denn wohl bedeuten?
Mir war so langweilig, dass ich mich unauffällig im Kino umsah.
Es saßen eigentlich nur Pärchen oder Gruppen von Mädchen oder Frauen in diesem Kino, die ihre Taschentücher bereithielten, falls der ach so tolle Hauptcharakter in der Flamme seiner Leidenschaft gegen seinen Tod und für die Liebe seines Lebens kämpfen wollte.
Es war doch das selbe wie immer.
Doch für mich war es heute nicht das selbe ins-Kino-gehen wie immer.
Ich schreckte hoch, als hinter mir er saß. Zwei Reihen ungefähr hinter mir, saß er und aß Popcorn.
Schnell drehte ich mich wieder um und hoffte nur, dass er mich nicht erkennen würde.
Mein Herz pochte wieder und genau in diesem Moment lag sie ihre Hand auf meine.
‚ARGH!‘, schrie ich innerlich so laut dass meine Trommelfelle von innen nach außen hätten platzen können.
Nervös wurde ich und fing an mit meinen Füßen auf dem Boden rhythmisch zu tapsen.
Meine Atmung glich sich dem Rhythmus an.
Sie kam mir näher und lag ihren Kopf auf meine Schulter.
Dabei wollte ich das doch gar nicht. Mir hat es gereicht, was wir durchgemacht hatten und wollte auf gar keinen Fall, dass sie sich in mich verliebt.
Das konnte ich nicht brauchen.
Plötzlich hörte ich wie hinter mir eine Packung Popcorn umfiel.
Zögerlich lugte ich nach hinten und entdeckte niemanden.
Er war gegangen.
‚Also hat er mich doch gesehen‘, seufzte ich in Gedanken.
Was sollte ich nun tun? Ihm hinterher? Meine Beine fühlten sich an, als wollten sie aufspringen und rennen. Doch was machte ich mit ihr?
Ich kann doch keinem das Herz brechen, das … das … war nicht meine Art.
Durch diese Trauergefühle die mich durchströmten, bekam ich Gänsehaut und zitterte.
Ich weinte nicht, aber irgendwie schon, dennoch nicht so, dass Tränen kullerten.
Es wurde mir nun alles klar.
Er war in mich verliebt. Sie war in mich verliebt.
Diese Anzeichen streckten sich wie auf einem Großbildschirm bis zu den Horizonten und durchflossen meine Gedanken wie ein reißender Strom zwischen kluftenden, spitzen Felsen.
Was war mein nächster Schritt?
Was war meine nächste Überlegung?
Was fühlte und wollte ich überhaupt …?
Kapitel 11 – Ultimat
Sonntag abends hatte ich nie wirklich etwas zu tun. Bis auf die ab und an laufenden Spielfilme im Fernsehen gab es eigentlich nichts, dass meiner Unterhaltung zugunsten kam.
Also beschloss ich zu dieser späten Stunde noch ein Buch zu lesen.
Ich tat das nicht oft, das war mir bewusst, aber dennoch versuchte ich das beste darin zu sehen.
„Dann hast du es weg“, schwirrte mir im Kopf herum.
Das Bücherregal war nicht groß. Gerade mal die wichtigsten und schönsten Bücher waren darauf platziert, nur um einzustauben und darauf warten, bis sie nach Wochen, Monaten gar Jahren wieder von ihrem Platz genommen werden, mit einem Wisch von der Staubqual befreit und aufgeschlagen werden.
Ein Buch stach mir ins Auge. Sein dunkler, blau-lederner Einband tat es mir an. Es war ein Krimi.
Das perfekte Buch zum Einschlafen.
Ich warf mich auf mein Bett, nur mit der Unterhose bekleidet und halb zugedeckt. Das Fenster war geöffnet, damit mein Zimmer reichlich mit Sauerstoff angefüllt war. Ich habe einmal gelesen, dass man so besser schlafen konnte. Ob dies wirklich der Fall war, kann ich aber nicht wirklich bezeugen.
Langsam glitt ich mit den Fingern über den Einband, um das Buch zu spüren, den Umschlag, die Oberfläche, um zu erkennen, dass die silbern glänzende Schrift perforiert war.
Ich öffnete das Buch und roch kurz die Druckerschwärze, deren Intensität beim Umblättern der Seiten nicht verloren ging.
Ich begann zu Lesen.
Meiner Meinung nach hatte ich das Buch schon einmal gelesen, der Inhalt und die Personen kamen mir vertraut vor, auch wenn ich mich nicht mehr ganz daran erinnern konnte. Mein Vater hatte es mir eines Tages vom Flohmarkt mitgebracht, meinte dass Lesen die Bildung fördere und ich es mir doch einmal zu Gemüte ziehen sollte.
Ich las es, aber nur weil mir langweilig war und ich zu diesem Zeitpunkt sowieso nichts anderes vorhatte. Ja ich las es fast an einem Stück. Es verlangte ein ganzes Wochenende, aber dann war ich damit fertig und konnte es in das Regal stellen.
Und es sollte verstauben. Das ist ein Fluch der doch über viele Bücher hereinbricht, wenn die Besitzer – solche wie ich einer bin – sie nicht artgerecht halten und pflegen, sie von den Staubkörnerarmeen befreien, wöchentlich, wie es sich gehörte.
Ich sollte mal wieder Staubwischen.
Die nächste Seite. Mein Selbst staunte nicht schlecht, als es die klein gedruckte zwanzig an der unteren Ecke des Buches entdeckte.
Mal wieder überflog ich mit meinen Gedanken, die wie Flügel waren, die Buchstaben und vergaß, beziehungsweise ignorierte den Inhalt des Kapitels.
Das Papier, auf das die Buchstaben bedruckt waren, war alt und rau. Ich hasste es, wenn das Papier alt und rau war. Es fiel mir dann immer schwer umzublättern, vor allem mit frisch gewaschenen oder extrem trockenen Fingern. Es war schrecklich sich immer wieder zu vergreifen, schnell die Finger an der Zunge abzustreifen und den Speichel dann im Buch zu verteilen. Nach meinem Tod würden Fremde sicher die Bücher heraus kramen, wenn ich keine Nachkommen bekommen würde. Mit viel Glück würden sie gleich verbrannt. Genauso gut wäre es, wenn sie verkauft würden, aber nicht an Wissenschaftler, die mich sonst klonen könnten, – nichts gegen Klone, aber noch mehr von meiner Sorte?- das wäre schrecklich. Würde ich in Zukunft eine schreckliche Straftat begehen, würde die Polizei mit meinen Büchern meine DNS überprüfen können.
Ach, das sind doch nur Hirngespinste und Humbug!
Ehe ich mich versehen konnte, befand ich mich schon dreißig Seiten weiter. Längst hatte das zweite Kapitel seinen persönlichen Höhepunkt erreicht.
Ich gähnte und las weiter, nur um später wieder zu gähnen.
Es wollte nicht aufhören.
Trotzdem las ich weiter, so schnell ich nur konnte. Die Zeit verflog.
Ich bemerkte gar nicht, wie müde ich wurde.
Letztendlich schlief ich ein, mit dem Buch auf meinem Gesicht, das ich maßlos voll sabberte.
Ein lautes Geräusch ließ mich aufschrecken.
Verwirrt lag ich die Decke beiseite und versuchte mir einen Blick durch mein Dachfenster zu erhaschen, doch mir wurde es nicht gewährt, etwas zu entdecken.
Plötzlich wiederholte sich dieses Geräusch und ich entschloss mich dazu, mein Zimmer zu verlassen, die Treppen hinabzusteigen und nach draußen zu gehen.
Ein komisches Gefühl strömte durch meinen Körper, als ich Stufe für Stufe zur nächsten Etage hinter mich brachte. Es war ein Kribbeln, aber ich fror nicht. Irgendwie kam es mir eher so vor, als würde ich leichter werden.
Mein Blick war etwas trüb, das hatte wohl mit meiner Schlaftrunkenheit zu tun.
Fest drückte ich die Hand auf den Türgriff und öffnete die Pforte in die Außenwelt.
„Ist da wer?“, erkundigte ich mich und im selben Augenblick huschte eine Silhouette an mir vorbei.
Der Krach wiederholte sich und kurzerhand folgte ich der Silhouette, die sicher der Grund des Übels war.
Ich rannte der Person hinterher, die nicht größer war als ich, sprang über kleine Zäune und folgte den Täter dann hinter eine Häuserfassade, zu einem Kleinen Hof. Die Häuser hatten auf dieser Seite keine Fenster.
ER saß dort. Mein Klassenkamerad, dessen Liebeleien mir den letzten Nerv raubten, mein Herz zum rasen brachten und meinen Verstand ausschalteten. Er saß dort, verschwitzt und dreckig im Gesicht, und in seinen schmutzigen Händen hielt er eine rote Tüte.
Und er war nicht älter als 12.
Ich seufzte, stützte meine Arme hinter meinen Kopf und blickte auf den Boden.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich, während ich verwundert dem Lauf meines Schattens folgte.
Aber warum sah mein Schatten so klein aus, für diese Tageszeit?
Meine Hände hielt ich vor mein Gesicht und betrachtete sie.
Warum waren sie plötzlich so klein?
Ich sah an mir herunter, meine Unterhose rutschte mir fast zu den Knien.
„Wieso bin ich so…“, ich stockte und erschreckt hielt ich die Hand vor den Mund.
„Mei… Meine Stimme ist so hoch…“
„Von was redest du da?“, wunderte sich mein Gegenüber.
„Schau mal weg“, meinte er, „Ich muss mal.“
Er stand auf und stellte sich direkt vor mich an die Hauswand und ließ seine Hosen herunter.
„Aber warum stellst du dich dann direkt vor mich?“, fragte ich ihn, doch anscheinend hörte er es nicht.
Nun musste ich auch. Der Druck auf meiner Blase war zu stark.
Ich stellte mich direkt neben ihn und dann ließen wir der Natur freien Lauf.
In einer Hand hielt er immer noch die rote Tüte fest. Er hielt sie so fest, das sie zerknitterte. Diese Tüte würde wohl nie mehr glatt werden.
Aber halt, auf was schaute ich da?
Mein Blick war wieder etwas getrübt, ich wurde wieder müde.
„Sag mal, hast du es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt? … es ihr gesagt?“
Ständig wiederholte er seine Worte und ich wusste nicht was sagen.
Er packte meine Schulter und presste mich gegen die Wand, dabei schaffte ich es noch nicht, mich wieder anzuziehen.
Ich schluckte und wusste nicht was sagen.
Nun kam er mir näher, berührte mit seinen Lippen fast meinen Hals und er flüsterte.
Doch ich hörte ihn nicht. Ich hörte nicht was er sagte, ich fühlte nicht was er meinte, ich spürte nicht die Luft, die er beim Sprechen ausstieß.
Dann entfernte er sich wieder von mir.
Seine Lippen bewegten sich. Ich hörte nicht was er sagte, aber verstand diesmal die Nachricht: „Schnell, bevor das Schiff abgefahren ist und wir nicht mehr …“
Alsdann er die letzten Worte zu sprechen vermag, verschwand er mit einem Blinzeln meiner Augen, das fortan nur noch zeitlupenartig von dannen ging.
Bevor ich etwas tun konnte, spürte ich hinter mir eine Präsenz. Jemand stülpte jetzt einen Pullover über meinen Körper.
Ich hörte noch die Worte: „Damit dir nicht so kalt ist“, und ein Geräusch, als würde jemand das Fenster schließen.
Seufzend schleuderte ich meine Hand auf den großen Ausknopf des Weckers, der mich mit seinem nervigen Weckton aus dem Schlaf riss, während ich mit einer Hand meinen Kopf kratzte, ich gähnte und versuchte aus dem Bett zu steigen.
Ich zog mich an und ging hinunter zur Küche, um wie jeden Montag morgen zu Frühstücken.
„Guten Morgen“, begrüßte mich mein Großonkel, der Zeitung las und genüsslich einen Kaffee trank.
„Morgen“, grüßte mich auch meine Großtante, „Gut geschlafen?“
„Guten Morgen. Na ja, es war eine komische Nacht.“
„Das habe ich gemerkt. Du hast plötzlich Krach gemacht, ich bin in dein Zimmer gekommen um zu schauen ob alles in Ordnung ist. Du hast wohl noch gelesen, oder? Das Buch ist dir aus der Hand gefallen, ich habe es auf den Tisch gelegt. Du bist aber nicht aufgewacht als ich es aus Versehen auf den Boden hab fallen lassen. Und du hast gefroren. Du solltest nachts lieber das Fenster geschlossen halten. Ich will dich nicht noch einmal zudecken müssen und dein Fenster schließen müssen.“
„Oh…“, mir wurde alles klar, während ich mich entschuldigte, „Es tut mir Leid, kommt sicher nicht noch einmal vor.“
Es war doch nur ein Traum gewesen.
„Jetzt frühstücke erstmal…“
Dies tat ich dann auch, während ich weiter über meinen Traum nachdachte.
Kapitel 12 – Sternenfunkeln
„Was hast du denn?“, fragte mich meine besorgte Großtante, als ich mich deprimiert am Mittagstisch niederließ.
Ich seufzte.
„Du kannst mir doch alles anvertrauen.“
Zugegeben, man konnte aus einer Meile Entfernung erkennen, dass es mir nicht gerade rosig ging.
„Ach“, fing ich an, „Heute haben mich alle damit genervt, dass am Samstag ein Winterball in der Schule ist, und dass ich doch hingehen sollte…“
„Hast du denn etwa keine Lust dazu?“, erkundigte sie sich, nachdem sie einen Bissen runter geschluckt hatte.
„Nun ja, nicht wirklich.“
„Aber wieso? Das ist doch schön. Du bist nur einmal jung, geh doch hin“, überzeugte sie mich mit glitzernden Augen, „Dein Großonkel und ich haben uns auf einem Ball kennengelernt, das war schön.“
„Deine Großtante war wunderschön“, fügte er hinzu.
„Wie verliebt wir doch waren“, liebäugelte sie ihren Mann.
„Wollen wir am Samstag essen gehen? Nur du und ich, Kerzenschein und köstliches französisches Essen…“, schlug er ihr vor.
„Gern, Schatz.“
„Und zu dir“, mein Großonkel wand sich nun zu mir, „Ich habe da noch einen alten Smoking, der ist noch gut in Schuss und müsste dir passen.“
„Ehm, nein da…“, wollte ich sagen, wurde dann von meiner Großtante unterbrochen.
„Nichts nein! Jetzt sei doch nicht so und feiere doch einen Abend lang mit deinen Freunden…“
„Ja, so etwas erlebt man nur einmal“, wollte mich nun auch mein Großonkel überzeugen.
„Na gut“, gab ich nach und aß weiter.
Nach dem Essen probierte mein Onkel mit mir den Smoking an, der mir überraschender Weise perfekt passte.
„Willst du mit mir zum Ball?“, fragte sie mich als würde ich automatisch „ja“ sagen.
„Mh“, gab ich von mir.
„Komm schon!“, forderte sie mich und flüsterte, „Du hast doch eh niemanden.“
‚Du hast doch eh niemanden‘, wie das aus ihrem Mund klang, als hätte ich wirklich niemanden mehr gehabt. Aber sie hatte ja gar nicht so unrecht.
Die Pause war noch nicht ganz zu Ende, also nutzten wir die Zeit über den Ball zu reden.
„Gut, wann soll ich dich abholen?“, gab ich nach.
„Treffen wir uns hier um 19 Uhr?“
„Okay geht klar…“, sagte ich.
Aber warum sollte ich sie nicht von zu Hause abholen? Das kam mir etwas merkwürdig vor. Letztendlich nahm ich es aber dann jedoch so hin wie es eben war. Was anderes blieb mir nicht übrig.
„Ich freue mich schon riesig darauf!“, grinste sie mich an, als der Lehrer ins Zimmer kam, drehte sie sich wieder nach vorn.
Der Unterricht begann, die perfekte Zeit mal wieder in einem Meer von Gedanken zu versinken und sich an Dinge zu klammern, durch die man nicht unter geht.
Ihr kennt das sicher, wenn ihr so in Gedanken seid, dass ihr darin fast untergeht. Aber es gibt immer diese… – wie soll ich sie beschreiben? – Rettungsboote, die einem vor dem Untergehen retten. Sei es eine Katze, die deinen Weg kreuzt, jemand der Laut hustet, oder Vogelkot der plötzlich auf deiner Schulter landet. Solche Dinge bringen einen wieder zurück in die Realität, auch sei es nur für kurze Zeit.
In dieser Stunde war es bei mir nicht nur ein Rettungsboot, sondern ein riesiger Tanker. Unser Lehrer hatte vor, mit uns eine Arbeit zu schreiben. Na toll, gelernt hatte ich nicht.
Die Arbeit war jedoch dann leichter, als ich es erwartet hätte und ehe einige ruhige Tage verstrichen, war es schon wieder Ende der Woche. Eine gute Note hatte ich trotzdem nicht bekommen, – unser Lehrer war wirklich extrem schnell, was das Korrigieren von Arbeiten anging – eine Vier war es diesmal.
Nach dem der Unterricht an diesem Freitag endete, verabschiedete sich mich und rieb mir noch einmal unter die Nase, dass sie sich sehr auf den Ball freute. Klasse, mich auch noch unter Druck zu setzen, wirklich zu dem Ball kommen zu müssen.
Der Ball, alles drehte sich in den letzten Tagen um den Ball. Wie wichtig es doch war, einen Partner zu haben, ja, das war das meist diskutierte Thema gewesen. Glücklich schätzten mich die, die keine Partnerin abbekommen hatten, verdammt wurde ich von denen, die eigentlich meine Partnerin ausführen wollten. Was für eine Welt. Wäre ich doch auch nur einer von denen, die alleine geblieben wären und keinen Grund hätten, auf diesen Ball zu gehen. Wäre ich doch nur einer dieser Leute gewesen, die keiner gefragt hätte.
Ob man ihn gefragt hat? So viele über ihn gelästert wurde in der Klasse, war das wohl eher unwahrscheinlich. Oder ging er mit einem Jungen dahin? Aber mit wem aus der Schule? Mit seinen Freunden, soweit man sie als Freunde bezeichnen konnte, lief bestimmt nichts. Es war in meinen Augen auch keine wirkliche Freundschaft, die er mit anderen pflegte. Im eigentlichen Sinne war es nur eine oberflächliche, eine so krass oberflächliche Beziehung zwischen ihm und seinen „Freunden“, dass er bestimmt niemanden hatte.
Oder hatte ich vielleicht etwas verpasst oder übersehen?
Nein, so wie ich ihn beobachtet und analysierte…
Oh! Das, das hatte ich gerade doch nicht gedacht, oder? Mir ist er doch irgendwie egal, oder doch nicht?
Schnell auch verging der Freitag und der Samstag Nachmittag. Ich zog mir den Smoking meines Onkels an, eine Krawatte oder eine Fliege war mir zu dann jedoch zu edel. Lässig ließ ich die Jacke offen und öffnete die obersten Knöpfe des strahlend weißen Hemdes.
Nun sollte es aufgehen, zum Ball.
Ich schlenderte schweren Herzens die Treppen hinunter, da kam mir mein Großonkel schon entgegen.
„Spring ins Auto, ich fahr dich“, meinte er zu mir und ging schon mal nach unten. Ich folgte ihm still.
Dann fuhr er mich zur Schule.
„Danke fürs Fahren“, bedankte ich mich.
„Wann kommst du ungefähr wieder?“, erkundigte er sich noch.
„Vielleicht schon recht früh“, seufzte ich in Hoffnung wirklich schon früher nach Hause zu kommen.
„Ach komm schon“, meinte er, „Von mir aus kannst du so lang bleiben wie du magst, ich erzähl deiner Großtante auch nichts.“
Dann zwinkerte er mir zu, schloss die Tür und fuhr wieder weg.
„Na toll“, seufzte ich.
„Da bist du ja endlich!“, schrie sie mir schon entgegen und tippelte auf ihren Stöckelschuhen in meine Richtung.
„Aber ich bin doch früher da als abgemacht?“, wunderte ich mich.
„Ja, aber ich dachte ich sollte auch lieber früher kommen, für alle Fälle!“
„Wie lang wartest du schon hier?“
„Einer Stunde…?“, sagte sie.
„Komm schon, sag die Wahrheit“, forderte ich sie auf. Man sah ihr an, wann sie log und wann nicht. Nein, ich sah ihr an wann sie log und wann nicht.
„Gut, schon seit zwei Stunden!“, gab sie endlich zu.
„Du bist doch eine Nuss“, meinte ich und lachte, doch dieses Lachen schluckte ich innerlich wie einen Stein hinunter.
Dann hakte sie sich bei mir ein und wir gingen zusammen zur Sporthalle, dort wo der Ball statt fand.
Die Halle war getrennt von dem regulären Schulgebäude, ungefähr 100 Meter von dem Eingang entfernt. An dem Weg standen seitlich Kerzen und erhellten ihn mit ihren flackernden Lichtern. Es war kalt.
Doch so schön die Lichter waren und so klar Abendhimmel an diesem Tag war, war ich überglücklich als ich endlich die Sporthalle erreichte. Vor der Halle an sich war noch ein kleiner Raum, in dem man seine Jacke und seine Sachen an einer Art dafür eingerichteten Rezeption abgeben konnte. So schien es mir zumindest. Ich zog meinen Mantel aus und gab ihm den Hausmeister, der an diesem Abend wohl dafür zuständig war.
Sie räusperte sich und ich drehte mich um. Ihre Mimik verriet mir dann schon, auf was sie hinaus wollte.
„Entschuldigen Sie, Gnädigste“, sagte ich überspielt und nahm ihr den Mantel ab.
Jetzt hatte ich wirklich keine Lust mehr auf diesen Abend.
„Wünsche euch einen schönen Abend“, brummte der Hausmeister und wir gingen hinein. Die Halle war winterlich in blau und violett geschmückt, eine Band spielte verschiedene Musik und es gab sogar ein Buffet. An der Decke hingen eine Disko-Glitzer-Kugel und verschiedenfarbige Scheinwerfer.
‚Was für ein Aufwand, für nur einen Abend‘, dachte ich mir und sah mir sie an.
Sie blickte mit riesigen Augen auf das ganze Inventar und die Gleichaltrigen, von denen sich die einen schon auf der Tanzfläche befanden und die anderen wohl noch zu nichts entscheiden konnte. So viele waren noch nicht gekommen. Ich erkannte einige Leute aus unserer Klasse, wobei mir spontan die Namen nicht mehr einfielen. Dann gab es da noch andere, wahrscheinlich aus Parallelklassen, die ich eventuell schon einmal auf dem Pausenhof gesehen haben müsste.
„Holst du uns etwas zu trinken? Ich sage den anderen schon einmal Hallo“, forderte sie mich auf und verschwand schon zu ihren Freundinnen.
Ich zuckte mit den Schultern und flüsterte: „Wenn du willst, meine Königin.“
Es waren für mich aber viel zu viele unterschiedliche – natürlich nicht-alkoholische – Getränke, zwischen denen ich nicht entscheiden konnte.
„Nimm doch das da, schmeckt echt klasse“, sagte eine männliche Stimme und zeigte auf eine Schüssel mit orangefarbener Bowle.
Wer hätte es anders erwartet, war es natürlich er, der sich neben mich gesellte und mich angrinste, als wäre mal wieder nie etwas passiert.
Was sollte das? Jedes mal diese Maskerade? Jedes mal diese komischen Gefühle die in mir aufkamen?
„Wo bleibst du? Ich warte auf dich“, sprach mich meine Partnerin von hinten an und drängte sich zwischen uns.
„Ach, du bist auch hier? Hätte ich gar nicht erwartet“, sagte sie und nahm sich einen Plastikbecher und schüttete dort etwas zu trinken für sich ein, „Diesen Kerl hier kann man nicht einmal zum Trinken holen schicken, ohne dass es Stunden dauert…“
Sie deutete dabei auf mich und er lachte. Dann grinste er, nickte mir zu und ging wieder zu seinen Kumpels.
„Nimm dir schon etwas, oder lass es bleiben“, schimpfte sie mich.
Ich nahm nichts. Allein schon weil ich mir nichts gefallen lassen wollte. Das war mir in diesen Momenten so egal.
Ein Weilchen später, als wir zusammen uns ungefähr mit jeder Gruppe in dieser Halle unterhalten hatte, wurde die Musik langsam tanzwürdiger und viel mehr trauten sich tanzen zu gehen. Und dann passierte es. Sie fragte mich, ob wir nicht tanzen wollten und bevor sie mir etwas anzutun drohte, stimmte ich lieber zu.
Ich hasste es in diesen Augenblicken so sehr auf diesem Ball zu sein. Mir war es doch alles egal. Mir war egal was die anderen von mir hielten, mir war egal wie geschmückt alles war und mir war egal was für ein Kleid sie trug.
Doch ich tanzte weiter. Tat ich es für sie? Damit sie glücklich ist? Ich wusste es nicht.
So ging es zwei, oder drei oder vier Lieder lang.
Dann war es plötzlich etwas still und sie kam mir näher.
„Ich muss dir etwas gestehen“, sagte sie zu mir und wollte sich an meine Brust lehnen, während der Bandleader sich zu seinem Mikrofon vorbeugte und mit einem kratzigen Tippen der Finger auf das selbige etwas ansagen wollte.
In diesem Augenblick, erkannte ich, was Sache war. Sie war wohl wieder in mich verliebt, diesmal aber ganz sicher. Aber wieso? Nur weil wir wieder Kontakt hatten? Ich hatte keine Lust darauf.
Ja, in diesem Augenblick war sie dabei, sich an meine Brust zu lehnen. Sie konnte aber nicht, da mich irgendwer von ihr wegzog und mich durch die Masse schleifte. Schnell verlor ich sie in der Menge der Leute, hörte noch ihr Stöckelschuhtappen, doch dies verstummte dann schnell, als der Sänger seine Ansage machte.
„Und hier etwas, für all die verliebten unter euch“, sprach er ins Mikrofon.
Dann fingen sie an ein ruhiges Lied zu spielen.
In diesem Augenblick zerrte mich die Person in einen der Geräteschuppen außerhalb der Halle und schloss hinter sich die Tür. Es war dunkel und die Musik war noch gut zu hören.
„Was willst du von mir?“, fragte ich, als ich langsam realisierte, dass da nur eine Person dahinter stecken konnte.
„Ich will mit dir tanzen“, sagte er sehr nervös.
Doch ich antwortete nicht.
„Ich will das nicht dort draußen machen…“
Die Band spielte die ersten Akkorde und die sanfte Stimme des Sängers harmonisierte perfekt mit der Musik.
„Bitte gönne mir nur einen Tanz…“, bat er mich.
„Bist du deswegen hier?“, hakte ich ein.
Doch er antwortete nicht.
„Meinetwegen…“, gab ich nach.
Mein Herz schlug wie wild. War das meine Wut auf den Abend, die Wut auf mich selbst, dass ich auf alles einwilligte was geschah?
Ich hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Schon glitt seine linke Hand um meine Hüfte und seine rechte griff nach meine linken. Meine übrig gebliebene Hand konnte ich nur noch auf seiner Schulter ablegen.
Ich konnte doch gar nicht tanzen, doch er wollte es trotzdem.
Er drückte mich noch etwas zu sich und dann tanzten wir zögerlich.
Mein Herz klopfte immer noch wie wild und an seiner Atmung hörte ich, dass er auch nicht gerade der Ruhigste war.
Meine Schritte, seine Schritte, alles ergänzte sich in diesen Augenblicken perfekt. Das einzige was mir noch übrig blieb, war mir in Gedanken alles vorzustellen.
Im Dunkeln fiel das einem ja leicht.
Meine Gedanken formten den Raum um uns. Wir standen auf einer glänzenden Fläche, das Licht schien auf uns herab und um uns herum war nichts. Es war nichts weiter außer uns und die Musik.
Wir tanzten, bis das Lied zu Ende war. Doch was nicht endete war meine Nervosität und mein wilder Herzschlag.
Was sollte das? Warum bedeutete mir das so viel? Hatte ich innerlich darauf gehofft, dass das so ablaufen würde? Nein, niemals, ich wollte doch gar nicht auf den Ball. Ich wollte ihn doch gar nicht sehen. Ich wollte es doch gar nicht mehr fühlen.
Er drückte mich plötzlich mehr an sich heran. Seine rechte Hand ließ meine Hand los und fuhr meine Körper hinauf zu meinem Hals und meinem Kinn. Dann hob er es ein wenig, sodass ich ihn ihn seine Augen blicken musste. Er hob es nicht fest. Es war alles sanft.
Ich spürte seinen Atem und er wahrscheinlich auch meinen. Einige Sekunden verstrichen, dann kam er mir langsam näher. Mein Herz pochte noch schneller.
Was sollte das? Ich… ich konnte ihm nicht widerstehen. Seine Augen hielten mich gefangen und ich spürte die Leidenschaft. Zu den vergangenen Nächten, die ich mit ihm verbrachte, war dies das komplette Gegenteil. Die Gefühle steigerten sich enormst.
Er kam mir immer noch näher, als würden sich unsere Lippen nach langer Zeit wieder treffen.
Als die Distanz zwischen unseren Lippen schon so gering war, dass sein Atem auf meiner Haut eine Art Beben auslöste, wich er wieder zurück. Ich hörte, wie er schluckte und sich seine Stimmbänder etwas veränderten.
„Es… tut mir Leid“, presste er sich mit leiser Stimme aus sich heraus, „Ich kann das so nicht weiter mitmachen…“
Ich verstand nicht was er meinte.
„Willst du… willst du mit mir gehen?“, fragte er und ich merkte, dass es ihn viel Überwindung kostete.
Plötzlich wurde mir ganz heiß. Was sollte das für eine Frage?
Ich hatte noch keine Antwort parat.
Kapitel 13 – Erholungsreise
Mittlerweile vergingen schon einige Tage, die mich den Ball aber nicht vergessen ließen.
Ich muss zugeben, zuerst ging ich nicht wieder in die Schule – ich täuschte vor, dass ich krank wäre – bin aber dann ab Donnerstag wieder hin gegangen.
Den Donnerstag über war eigentlich alles, wie normal. Bis auf dass sie nicht mit mir redete und er mir ständig eigenartige Blicke zuwarf, das spürte ich.
Darum entschloss ich, als ich Freitag morgen merkte, dass sich nichts daran änderte, am Wochenende in die große Stadt zu fahren. Gut, es dauerte zwar eine Stunde mit dem Zug, aber es lohnte sich und ich konnte mich von dem Alltag etwas lösen.
Ich hatte nun Zeit nachzudenken.
Als ich aus dem alten Zug stieg, kam mir schon der Großstadtmief entgegen. Durch einen unterirdischen Gang es zum Hauptbahnhof, der nicht nur riesig war, sondern auch dementsprechend voller Menschen. Es war ein überdachtes, riesiges Gebäude in dem sich alle möglichen Geschäfte eingenistet hatten – soweit man das überhaupt sagen kann.
Ich verließ also dann das große Gebäude und kam an einem Platz an, der sich weit von Parkplatz bis zu Straßenbahnhaltestellen streckte. Menschen wuselten wie Ameisen über den gepflasterten Platz, manche rannten, manche blieben stehen und warteten auf jemand.
Dann schulterte ich mir meine Tasche noch einmal richtig auf, kuschelte mich in meinen Schal – es war ja immer noch Ende Winter – und ging einfach dort hin, wohin es mich gerade zog.
In der Großstadt traf man viele verschiedene Menschen. Es gab Mütter mit ihren Kindern, egal ob mit oder ohne Kinderwagen, Großmütterchen und Großväterchen, Männer in Anzügen, eine Gruppe von Touristen und nicht zu vergessen die vielen Jugendlichen – und ich machte keinen Unterschied, ob es jetzt nun nur 13-jährige Mädchen oder eine Horde von fast 18-jährigen Kerlen war.
Größtenteils ignorierte mich jeder, der an mir vorbei lief, doch manchmal bekam ich das Gefühl, als würde mich jemand nur böse anstarren. Dabei war ich noch nicht einmal auffällig gekleidet… oder hatte ich etwas im Gesicht? Vorsichtshalber strich ich mit beiden Händen über mein Gesicht.
Vielleicht lag es daran, dass ich mich nicht bemühte besonders glücklich zu wirken und deswegen kaum lächelte. Vielleicht lag es aber auch an etwas ganz anderem.
Ach das war mir doch alles egal! Was kümmerte es mich, was diese Fremden von mir dachten. Sie kannten mich sowieso nicht und sie sollten das auch nicht.
Nun ging ich etwas schneller.
Mein Weg führte mich an einigen Bäckereien, Konditoreien und Fast-Food-Ketten vorbei.
Die verschiedensten Gerüche stiegen mir in die Nase. Einerseits roch vieles sehr appetitlich, anderes jedoch nicht so lecker. Nach einiger Zeit blieb ich stehen und sah ein lecker wirkendes Kuchenstück. Ich hielt inne, zog meinen Geldbeutel vorsichtig aus der Tasche, steckte ihn wieder hinein und zog ihn dann doch komplett heraus. Ich öffnete das Fach, wo das Kleingeld drin war und zählte die Münzen. Doch so viel Geld hatte ich dann doch nicht, schließlich musste ich auch wieder nach Hause fahren, auch wenn ich das irgendwie nicht wollte.
Zuhause.
Das gab es für mich doch gar nicht mehr. Dort wo ich wohnte – und ich habe wirklich nichts gegen meine Großtante und meinen Großonkel – das war niemals mein Zuhause.
Mein Zuhause war in dieser anderen Stadt, mit dem anderen Haus und dem anderen Fluss.
Ich muss zugeben, anfangs habe ich mir noch oft überlegt, ob ich nicht einfach zurück fahre. Zurück zu dem Ort, an dem so viele Erinnerungen sind.
Nun lief ich wieder etwas langsamer. Bis ich plötzlich stehen blieb und mich auf eine Bank setzte. Von dort hatte ich Ausblick auf einen Brunnen, aus dem kein Wasser kam und einen noch recht kahlen Baum. Wolken zogen schon zu und einige Lichter gingen schon an.
Was würde ich tun, wenn er hier wäre? Wenn er nicht gestorben wäre?
Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen. Dann öffnete ich sie wieder und sah ihn vor mir sitzen, als wäre nie etwas passiert.
„Mach nicht so ein trauriges Gesicht…“, meinte er und sah mich an. Sein Blick durchdrang mich so stark, dass es sich anfühlte, als ob mein Inneres sich mit Luft und Wolken füllte.
„Aber ich bin eben traurig…“, antwortete ich kühl.
Er antwortete nicht darauf. Stumm blickte er nach oben.
Es war, als wäre er noch am Leben. Sein Atem kondensierte in der Luft und wurde vom Wind weggetragen.
Dann blickte ich auch nach oben und entdeckte kleine Schneeflocken, die langsam zu Boden fielen. Sofort kribbelte es in meinem Körper und ich merkte, wie ich langsam Gänsehaut bekam. Schnell wurde es kühler.
„Was soll ich nur machen, ohne dich…“, flüsterte ich und senkte meinen Blick wieder. Er saß immer noch da. Innerlich seufzte ich erleichtert auf.
„Und was soll ich ohne dich machen? Also echt…“, gab er von sich und stand auf. Dann ging er einfach weiter.
Ich sprang sofort auf und rief: „Halt!“
Dann rannte ich ihm hinterher und packte ihn an der Schulter und drehte ihn um.
„Ich…“, sagte ich noch und bemerkte es dann aber, „Entschuldigung…“
Er war weg. Die Person, der ich hinterherlief, war einfach irgendein Junge gewesen, der dann zunächst verwirrt war, aber weiterging als wäre nichts gewesen.
Ich drehte mich um und ging weiter. Der Schneefall wurde immer stärker. Die Schneeflocken, die auf meiner Haut landeten, hinterließen nicht nur eine unangenehme Kälte, sondern fühlten sich in diesen Momenten auch tonnenschwer an.
Das war nicht gut. Es war einfach nicht gut, dass ich ihn gesehen hatte. Es war nicht gut, dass ich jetzt auch noch fast zu weinen begonn.
Aber was blieb mir anderes übrig? Kaum war ich von ihm weggekommen, in den letzten Monaten, da frägt mich schon der nächste, ob ich mit ihm gehen wolle. Aber ich wollte doch gar nicht!
Oder doch?
War es nicht genau das, was mich so verwirrte und mich entwurzelte, diese Unentschlossenheit?
Dann passierte es, während ich schnellen Schrittes durch die vollen Straßen lief, versuchte niemanden anzurempeln und mich nicht zu sehr von dem Schnee und den Lichtern ablenken zu lassen. Ich hatte einen Blackout. Im Nachhinein war ich noch glücklich, dass ich nicht vergaß, dass ich in der Großstadt war, das musste ich zugeben. Dennoch war dieser Blackout nicht das Wahre.
Zunächst blieb ich stehen, denn mir wurde schwarz vor Augen. Dann klärte sich das Bild wieder und das einzige was ich hörte, waren die Schritte und das Gebrabbel der anderen. Meine Gedanken schotteten mich diesmal nicht von allem ab. In meinem Kopf hallten nur die Geräusche der Umwelt umher.
„Nein“, sprach ich zu mir in Gedanken, „Ich will nicht länger bleiben… Es ist sowieso schon so spät und…“
Dann ging ich einfach zurück zum Bahnhof, kaufte mir ein Ticket und nahm den nächsten Zug zurück nach Hause.
Ich kam noch rechtzeitig zum Abendessen zurück und verbrachte den Rest des Abends mit Fernsehen. Meine Fragen waren dadurch zwar immer noch nicht beantwortet, aber es war zumindest eine gute Ablenkung.
Kapitel 14 – Ausfliegen
Die letzten Wochen vergingen sagenhaft langsam. Die Schule stresste mich in dieser Zeit sehr und deswegen blieb ich öfters dem Unterricht fern. Natürlich ließ ich mich von meiner Großtante entschuldigen.
Den Lehrern viel es aber auf, dass ich des öfteren fehlte und deswegen zog mich meine Klassenleiterin in ein unangenehmes Gespräch, in dem ich ihr weiß machen musste, dass alles in Ordnung war.
Aber das war nicht das einzige Problem, was ich hatte. In der letzten Woche hatten wir wieder ein Gespräch. Es handelte sich um den Klassenausflug, den wir morgen machen wollten. Sie drängte mich regelrecht dazu, mitzufahren.
Es ging in die Berge, auf eine Hütte in einem recht verschneiten Gebiet. Mich nervte der Winter hier schon genug, deswegen wollte ich nicht noch den extremeren Winter in den Bergen miterleben. Aber irgendwie schaffte sie es, mich dazu zu bewegen, zumal meine Großtante und mein Großonkel mich auch noch dabei haben wollten.
Also gaben mir die beiden das Geld und schwupps… war ich angemeldet und musste morgen also mit auf Reisen gehen.
Wie ich keinen Bock darauf hatte.
Ich seufzte, als ich in meinem Bett liegend aus meinem Dachfenster in den Sternenhimmel blickte. Mit einem schnell Griff, schnappte ich mir meinen Wecker, drückte auf das Licht und hielt die Anzeige vor mein Gesicht.
Es dauerte nur noch ein paar Stunden, bis ich wieder aufstehen musste.
Für einen Moment schloss ich die Augen. In den letzten Wochen lief es echt nicht so gut. Seit dem Ball, war ich nur noch schlecht gelaunt. Was die beiden, die auf mich standen, natürlich bemerkten. Irgendwie verließ mich bis heute nicht das Gefühl, dass die zwei das Gefühl hatten, dass es ihre Schuld war.
War es irgendwie ja auch.
Wieso mussten sie es mir nur so schwer machen!?
Außerdem kam in mir gerade das Gefühl hoch, dass während des 5tägigen Ausflugs etwas schlimmes auf mich zukommen würde.
Mal sehen, sprach ich immer wieder zu mir in Gedanken, bis ich letztendlich für die letzten paar Stunden einschlief.
Das schrille Klingeln des Weckers riss mich aus meinem Schlaf. Müde atmete ich erst einmal tief ein und aus, stellte dann den Wecker ab und brachte mich dann durch magische Kräfte dazu, aufzustehen.
Halb fünf Uhr morgens. Um sechs sollte der Bus fahren.
Meine Knochen fühlten sich schwer an als ich aufstand und die Träge gab mir das Gefühl, als würde ich auf einem anderen Planeten herumspazieren. Als ich mich dann im Bad aber betrachtete, merkte ich, dass ich wohl noch auf der Erde wahr.
Schade.
So machte ich mich dann fertig, schnappte mir meine Tasche und verabschiedete mich von meinem Großonkel und meiner Großtante, die gerade erst aufgestanden waren. Dann schlenderte ich mit meiner großen Tasche über die Schulter gehängt, zur Schule. Dort sollten sich alle treffen, bis die große Reise anfing.
Als ich ankam, sah ich schon einige Leute aus meiner Klasse vor dem Bus stehen. Ich sah auch meine Klassenleiterin die mit einem anderen Lehrer eine rauchte.
Ich hatte keine Lust zu warten, also stieg ich schnell in den kühlen Bus ein. Ganz vorn saßen schon einige Mädchen. Ganz nach hinten wollte ich nicht gehen, denn dort hatten sich die coolen Jungs aus meiner Klasse ihre Plätze reserviert. Also blieb mir noch die hintere Mitte. Ich suchte mir einen Doppelsitz und setzte mich. Meine Tasche legte ich demonstrativ neben mich, sodass sich keiner neben mich setzen konnte.
Die Müdigkeit stieg wieder in mir hoch, wie Wasser, dass durch eine Hochdruckpumpe nach oben befördert wurde. Gähnend nahm ich mein Wasser und trank davon. Auf einmal war mir schwindelig und ich fasste meine Stirn. Ich gähnte wiederholt.
Dann fiel mir ein, dass ich meinen MP3-Player eingepackt hatte. Ich warf mir die großen Kopfhörer über und startete die Musik.
Dann schlief ich ein. Es dauerte ein Weilchen, bis ich wieder aufwachen sollte.
Alle stiegen ein, nachdem die Lehrerin die Anwesenheit kontrollierte, fuhr der Bus los. Die Fahrt dauerte einige Stunde. Gegen Mittag kamen wir an der Hütte an.
Ein Ruck riss mich aus meinem Schlaf. Im Gang stand er, blickte mich an als ich langsam die Augen öffnete und realisierte, wer mich da weckte und wandte dann seinen Blick wieder von mir und murmelte etwas wie „Wir sind da.“
Ich gähnte, streckte mich und sah ihm zu, wie er ausstieg. Hinter ihm standen noch einige andere Jungs, die es wohl eilig hatten, den Bus zu verlassen. Ich zog mir die Jacke über, schnappte mir mein Gepäck und stieg auch aus.
Wir waren angekommen und schon wollte ich wieder heim.
Die anderen Leute aus der Klasse drängten schon. Sie wollten unbedingt in ihre Zimmer.
Ich seufzte. Der einzige Grund, wieso ich so schnell wie möglich in mein Zimmer wollte war, weil hier draußen eine Eiseskälte herrschte, obwohl die Sonne gnadenlos auf den mit Schnee bedeckten Boden strahlte.
Die Lehrer holten ihre Listen heraus, hakten noch einmal die Anwesenheit ab und überprüften noch einmal die Zimmerverteilung.
Die Zimmerverteilung!? Was?
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Klar mussten die Zimmer eingeteilt werden. Hatte ich in der Stunde in der wir das gemacht haben, gefehlt? Wahrscheinlich.
Das konnte ja nichts gutes bedeuten.
Zuerst waren wir Jungs an der Reihe. Das konnte ja nicht gut ausgehen, niemals…
Die Lehrerin gab einer Gruppe von fünf Jungs einen Schlüssel, dann kamen einige Gruppen mit jeweils vier und jeweils drei Leuten an der Reihe.
Ich schluckte. Man hatte mich doch eingeteilt, oder? Aber nur mit wem.
Es wurden langsam immer weniger Jungs.
Zuletzt wurden die zweier Zimmer verteilt, bis letztendlich noch ein anderer Junge übrig blieb.
Er.
Ich wusste es doch, ich wusste es.
Innerlich seufzte ich wieder. Warum musste er mir das antun?
Sie stand plötzlich neben mir und lächelte mich an.
„Sehen wir uns heute Abend?“, fragte sie.
„Was?“, gab ich leise von mir, dann antwortete ich gedankenverloren, „Ja, ja.“
Die Lehrerin rief meinen Namen auf. Dann gab sie uns beiden den Schlüssel.
Er grinste mich nur sachte an.
Also war ich doch mit ihm in einem Zimmer…
Konnte es noch besser werden?
Ich schlenderte durch die Hallen des einanhalb-Sterne-Hotels und folgte ihm, auf der Suche nach unserem Zimmer.
Zu welchem Gott ich in dem Augenblick, in dem wir an dem Zimmer angekommen waren, betete, weiß ich nicht, aber ich tat es.
Wieso?
Es sollte einfach nicht schlimmer werden.
Er steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte einige Male herum und öffnete dann die Tür. Natürlich trat er auch als erstes rein und warf seine Tasche gleich aufs Bett.
Das Bett.
Mir war ja eigentlich egal wie klein das Bad, gammelig die Schränke und winzig das Zimmer war. Aber das Bett war mir schon wichtig.
Es war ein Doppelbett.
Klasse.
Das konnte ja was werden, nicht?
„Wir haben heute doch noch einen freien Tag, nicht?“, fragte er mich plötzlich.
„Kann sein“, antwortete ich, als ich anfing meine Sachen auszupacken.
Er wirkte irgendwie – wie soll ich das beschreiben? – nicht kalt, sondern eher abgekühlt. Für ihn war es sicherlich unangenehm, schätzte ich.
Seit dem Ball, hatte ich wirklich nicht mehr viel mit ihm geredet und hab vor allem nicht auf seine Frage geantwortet.
In diesem Moment zeichnete sich die Szene wieder vor meinem inneren Auge ab. Er stand da und fragte mich einfach, ob ich mit ihm gehen würde.
Es fühlte sich plötzlich so an, als ob mein Gehirn einen Hammer auf mein Herz fallen ließe und dieser dann in meinen linken Fuß plumpste.
Aber ich wollte doch gar nicht mit ihm gehen, oder?
„Was machst du heute dann noch?“, hakte er nach. Er war wohl echt neugierig. Ob er mich fragte, damit er das selbe sagen kann wie ich?
„Weiß noch nicht genau“, gab ich zur Antwort. Ein schlauer Schachzug.
„Ich bleibe auf jeden Fall hier. Hab da grade ein spannendes Buch…“
Diese Antwort überraschte mich. Sollte er doch sein blödes Buch lesen, dachte ich.
„Vielleicht werde ich ja einen Spaziergang machen“, sagte ich und ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite und blickte nach draußen. Die Sonne stand nicht mehr so hoch am Himmel. Bald sollte sie hinter den Bergen verschwunden sein.
Er gab mir keine Antwort mehr. Ich räumte dann noch meine restlichen Sachen heraus. Meinen MP3-Player schloss ich noch schnell zum Laden an die Steckdose. Wenn ich jetzt noch ein Weilchen warten würde, könnte ich sogar noch lang genug Musik hören.
So ging ich einfach mal ins Bad und sperrte mich ein. Dann setzte ich mich auf die Kloschüssel und krempelte meinen linken Ärmel nach oben.
Mit der Spitze meines Zeigefingers fuhr ich über die Unterseite meines Armes. Gut sind sie verheilt. Ein Glück dass ich mit diesen sinnlosen Aktionen aufgehört hatte.
Lag das wohl nur daran dass ich andere Gedanken hatte?
Ich fuhr immer weiter hoch, bis ich über eine Narbe kam, die einen stechenden Schmerz aussendete, als ich sie berührte.
Mein erstes Mal, dachte ich.
Es klopfte.
„Bist du fertig? Ich würde gerne Duschen“, sprach er von draußen.
„Sorry“, meinte ich, stand auf, öffnete die Tür und ließ ihn herein.
Er ging an mir vorbei und ich merkte, wie sein Blick mich streifte. Ich konnte nicht zurückblicken. Dann schnappte ich mir so schnell es ging meine Jacke, meinen MP3-Player und ging nach draußen.
Frischluft würde mir sicher gut tun.
So spazierte ich ein wenig durch die Gegend und nach einiger Zeit wieder zum Hotel zurück. Es sah alt aus, bürgerlich angehaucht, sehr traditionell. Nicht mein Fall.
Ich ging herum und sah durch die Fenster. In einigen sah ich die Mädchen, woanders hörte ich die Jungs herumalbern.
Ich seufzte. Warum musste ich das hier machen?
Dann kam ich an ein Fenster und staunte, was ich da sah. Es war unser Zimmer. Er hatte vergessen die Vorhänge zurückzuziehen, nachdem ich sie beiseite schob. Weswegen ich tollen Ausblick auf das hatte, was er gerade machte. Er stand vor dem Bett, mit kabellosen Kopfhörern auf dem Kopf. Er trug eine enge, schwarze Unterhose und ein weißes, enges Shirt. Er tanzte.
Es sah aus als würde er eine Mischung aus einem Tanz und Ballett machen.
Ich stand wie gebannt vor dem Fenster und starrte. Es wurde langsam dunkel und die gelblich-orange Farbe des Lichtes in dem Zimmer brannte sich auf meine Netzhaut ein. Sein Körper tanzte durch das Zimmer.
Wieso war ich so fasziniert?
So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er sah so anders aus. Wie als wäre er in Trance, bewegte er seine Beine und Arme, seinen ganzen Körper und drehte sich, beugte sich nach vorn und kam wieder hoch.
Sein Gesicht sah dabei so friedlich aus, als hätte er alle Sorgen vergessen. Ich war hin und weg.
Und dann blickte er auf. Er starrte in die Dunkelheit. Plötzlich riss er seine Augen auf, als er erkannte, wer da stand und ihn beobachtete. Sofort schmiss er sich zu Boden und fragt mich nicht, wie er es machte, aber auf einmal gingen die Vorhänge zu.
Peinlich.
Ich schlenderte zurück zum Eingang, wo mich die Rezeptionistin willkommen hieß. Dann suchte ich mein Zimmer auf.
Als ich hineinging, lag er auf dem Bett, mit dem rücken zur Tür. Er hatte eine gemütliche Hose und einen Pullover an. Ein großes Kissen drückte er feste an seinen Körper.
„Hey…“, begrüßte ich ihn. Es tat mir schon irgendwie Leid, dass ich ihn in so eine peinliche Situation brachte.
„Hi“, brummte er in sein Kissen.
Ich zog meine Jacke aus und setzte mich auf mein Bett, trank etwas und schloss die Augen für einen Moment.
„Du hast es gesehen, nicht?“, fing er auf einmal an. Ich hatte das Gefühl, dass ich in seinem Ton einen recht traurigen Unterton heraushörte.
„Was denn… Oh, das… ja“, viel mir mit schauspielerischer Leistung auf, „Machst du das schon länger?“
„Tanzen… ja…“
Ich hatte meine Augen immer noch geschlossen. Es war irgendwie angenehm einfach nur seine Stimme zu hören.
„Sieht gut aus, ich kann nicht tanzen…“, bemerkte ich und dann fiel mir erst auf, was ich da gesagt hatte.
„Ich weiß“, murmelte er. Dann hörte ich, wie er sich drehte. Ich öffnete die Augen und sah ihn, wie er mich anblickte. Seine Augen glänzten in einem traurigen Schimmer.
„Habe ich dich zu früh gefragt?“, hakte er nach.
„Ich…“, nuschelte ich, „Ich…“
„War ich zu aufdringlich? Zu unhöflich? Bitte sag es mir, dann…“, presste er aus sich heraus, als würde er gleich zu weinen anfangen.
Er setzte sich auf, lag das Kissen beiseite und gestikulierte mit den Händen.
„Hab ich irgendetwas falsch gemacht?“, drängelte er und stand auf.
Verlegen drehte ich meinen Kopf beiseite.
Was sollte ich jetzt sagen?
„Ich…“, stotterte ich, „Ich bin einfach zu…“
Auf einmal packte er meine Hand und zog mich zu ihm, sodass ich schon von automatisch aufstand.
„Ich möchte bei dir sein, hörst du…“, flüsterte er mir in mein Ohr.
Ich wusste einfach nicht was ich tun und was ich sagen sollte. Mein Verstand schrie richtig, aber mein Körper hörte einfach nicht. Also ließ ich mich in dem Schwall von Gefühlen und Hormonen, die gerade in mir aufbrodelden, fallen.
Er strich mir Haarsträhnen hinters Ohr. Sein Atem strich mir sanft über die Wange. Dann setzte er seine erstaunlich weichen Lippen auf meine.
Jetzt verlor ich die Kontrolle über mein Tun und fiel ins Bett zurück.
Er folgte meiner Bewegung und lehnte sich über meinen Körper. Seine zarten Finger und seine Lippen streichelten mir über meinen Mund und meinen Hals.
„Ich liebe dich…“, gestand er mir und strich weiter mit seiner Hand über meinen Hals. Mit der anderen Hand fuhr er langsam unter mein Oberteil und schob es nach oben. Die kalte Luft kitzelte auf meiner Haut. Seine warmen Finger brachten mein Fleisch hingegen zum pulsieren.
Ich ließ mich treiben in seinen Berührungen.
Wir küssten uns weiter. Er fuhr mir durchs Haar, nachdem er mir das Oberteil auszog.
Ich musste nach Luft schnappen. Schnell hatte er seinen Pullover ausgezogen und warf es samt seinem Shirt in eine Ecke des Zimmers.
Meine Finger kribbelten als ich seine Brust berührte. Mit seinen starken Armen schob er mich weiter ins Bett und auf einmal lag ich zwischen den Kissen und den Decken. Er beugte sich wieder über mich. Mit seinen Händen fuhr er meinen gesamten Körper ab, als wolle er mich ertasten. Mir wurde langsam warm.
Dann fing er an, meinen Hals zu Küssen und fuhr mit seinen Lippen und der Zunge über meine Brust, bis hin zu meinem Bauchnabel. Es fühlte sich sagenhaft an.
Dann hielt er inne und obwohl ich ihn nicht ansah, spürte ich dass er mich fragend ansah. Doch als ich etwas sagen wollte, kam kein Ton aus meinem Mund.
Er öffnete schnell seine Hose und zog sie aus. Dann öffnete er auch die Gürtelschnalle meiner Hose und ließ sie langsam an meinen Beinen hinunter gleiten.
Ich schnallte nach oben und packte seine Schultern. Dann folgte ein inniger Kuss. Meine Hände glitten nach unten, über seinen Rücken bis hin zu seinem Hintern. Der weiche Stoff seiner Unterhose fühlte sich warm an. Sein ganzer Körper fühlte sich warm an.
Dann fuhr er mit einer Hand von meinem rechten Knie aus nach oben, über den Überschenkel bis zu meinem Schritt.
Wir waren beide erregt. Es dauerte nicht lange, da zogen wir uns komplett aus und liebten uns, noch eine ganze Weile.
Kapitel 15 – Schritte
Der Winter war fast vorbei, als sich meine Ferien gegen Ende zubewegten. Vor den Ferien war ich mit meiner Klasse auf Klassenfahrt gewesen und hatte einiges erlebt. Dinge hatte ich erlebt, die ich immer noch nicht ganz verarbeiten konnte.
Unter dem Vorwand mit meiner Großtante und meinem Großonkel wegzufahren, konnte ich die Ferien einsam zu Hause genießen, ohne von ihr und ihm genervt zu werden.
Ich verbrachte meine Zeit damit zu lesen, bis mir daran die Lust verging. Ich spazierte spät nachts, in der Hoffnung zwischen der dicken Wolkendecke doch noch ein paar Sterne erspähen zu können, doch ich hatte immer wieder Pech.
Die Zeit verging leider so langsam, wie ich brauchte morgens mich aus dem Bett zu quälen und runter in die Küche zu gehen, mir etwas zu Essen zu machen. Einige Tage lang war es sogar eher so, dass ich erst zum Abendessen aufgestanden bin. Meiner Großtante musste ich natürlich immer wieder klar machen, dass alles in Ordnung mit mir sei. Sie glaubte mir. Ich glaubte, dass sie es glaubte.
Ich kam mir, seid ich bei ihr und meinem Großonkel eingezogen war, nie dabei schlecht vor, sie anzulügen. Es war ja immerhin zu meinem eigenen Schutz. Aber in diesen Ferien, war ich nicht mal mehr selbst von meinen Lügen überzeugt, mir mindestens daraus für eine kurze Zeit einen Schutzmantel überwerfen zu können, der mich selbst vor meinen allzu schwarzen Gedanken schützen konnte. Ich fühlte mich wie ein Heuchler, in den Spiegel zu sehen und mir sagen zu müssen, jetzt mit einem leichten Lächeln hinuntergehen zu wollen.
Und wieso das alles? Weil ich das Glück wieder spürte, das ich seid Monaten nicht mehr gefühlt hatte. Seitdem er mich damals verlassen hatte.
Mir kam auf einmal ein eigenartiges Gefühl hoch. Ob ich ihn vermisste? Klar tat ich das. Dennoch war in diesem Gefühl auch eine überschwellige Akzeptanz mit drin, von der ich wusste, dass ich sie annehmen musste. Was konnte ich schon an der Situation ändern? Was konnte ich schon an meiner Vergangenheit ändern?
Als mir die Langeweile so in den Kopf stieg, dass mir nicht mal mehr das Lesen oder das Anstarren von Filmen oder DVDs helfen konnte – bewusstes wahrnehmen der Ereignisse in diesen Filmen war schon lange nicht mehr drin gewesen – tat ich einfach nichts mehr, außer aus meinem Dachfenster hinaus in den Winterhimmel zu starren und nachzudenken. Zugegeben, manchmal hatte ich das Gefühl, das meine Augen von dem Starren austrockneten und ich deswegen Höllenqualen erleiden musste, dennoch konnte ich nicht aufhören. Die Leere, die mir die Umgebung während dem Denken schenkte, tat einfach gut. Sie tat so gut.
Stellt euch einmal vor, ihr seid den ganzen Tag mit Freunden unterwegs, trefft noch mehr Leute die ihr kennt und hört euch ihre Probleme an, irgendwann wird das Treffen zu einer Party und die Menschenmasse, die auf euch niedertrampelt wie eine Herde Büffel wenn sie zum Wasserloch rennen, wird nicht weniger. Wie befreiend ist es dann, allein in der düsteren Kälte der Nacht einen kurzen Spaziergang zu machen? Fühlt man sich dann nicht befreit? Fühlt man sich da nicht ein klein wenig wie Gott?
Ich fühlte mich wie Gott an jedem Abend, als mir die vom Himmel fallenden Schneeflocken wie kleine Engel vorkamen, die mich darin bestätigten, was ich gerade machte. Einfach nur still vor mich herzulaufen und zu denken.
Die Stille führte dann soweit, dass mein Mund so trocken wurde, dass ich nicht einmal mehr auf die Fragen meiner Großtante, was ich mir zum Essen wünsche, antworten konnte. Peinlich, dann erst einmal einen Schluck Wasser zu sich nehmen zu müssen, um gescheit zu antworten. Meine Großtante lachte immer dabei. Was sie sich dabei wohl dachte?
Wie auch immer lag ich also nun, wie durch die letzten Tage gewohnt, auf meinem Bett und starrte hinaus in die Ferne des grauen Himmels, des grauen Schnees der auf das Fenster hinab fiel und dann, wenn die Masse schwer genug war, nach unten rutschte. Ob das mit Menschen auch passieren würde, wenn sie sterben? Dass sie fallen und erst dann hinunter rutschen, wenn genug andere Menschen auf einem drauf liegen würde?
Ist das der Grund, wieso man Massengräber hatte, damit Menschen hinab in die Tiefen der Erde fallen würden?
Ich hörte Musik. Klassische Musik, wie ich es mir nach einem Referat in der Schule angewöhnte. Sie entspannte einfach. Enthielt keine befremdlichen Stimmen oder Texte, sondern sprach einfach aus sich heraus, so wie sie klang. Ob ich mich dabei gut oder schlecht fühlte? Das spielte keine Rolle, Hauptsache ich fühlte überhaupt, während ich mich tief in das Denken hineinstürzte, wie ein Adler, der sich in die Tiefen der Schluchten begab um Beute zu fangen.
Was war meine Beute, als ich versuchte den kluftenden Felsen auszuweichen, die bedrohlich näher kamen? Ich tanzte um ihnen auszuweichen, so wie er tanzte, denn er war mein Ziel.
Seine Berührungen die er mir schenkte, fühlten sich zu dem Zeitpunkt an wie loderndes Feuer, die meine durch die Kälte der Angst und Depression zugefrorenen Glieder wieder erwärmten. Sein Atem fühlten sich wie warmes Wasser an, das den Schnee um mich herum zum schmelzen brachte, an jenem angenehmen ersten Frühlingstag, der meine Blüte zum erblühen brachte.
Warum wurde ich nur so abhängig von ihm? Warum konnte er mir einfach nicht egal sein?
Außerdem war dann noch die Sache mit meiner besten Freundin, die der ganzen Sache wohl weniger Freude schenkte, als ich der Sache entgegennahm.
Sie war mir auch so ein Rätsel geworden. Warum war sie nicht im Stande mir die Gefühle zu zeigen, die sie wirklich für mich empfand? Es war eigenartig dieses Gefühl vermittelt zu bekommen, welches einem weder Liebe noch Hass zusprach. Es war auch keine Freundschaft, das wusste ich.
Was, wenn ich sie durch meine Liebe zu ihm so stark verletzen würde, dass sie nie wieder mit mir reden würde?
Einerseits will ich sie nicht verletzen, andererseits… wollte ich nicht noch eine Person verlieren, zu der ich eine Beziehung habe.
Ich hielt die Luft an als ich plötzlich realisierte, wie wichtig sie mir doch geworden war. Allein durch die alltäglichen Gewohnheiten wuchs sie mir so ans Herz, dass ich mir die kommenden Tage, Wochen und Monate nicht ohne ihre Begleitung vorstellen konnte.
Sie nervte mich.
Das spürte ich.
Sie brabbelte immer wieder dazwischen.
Daran hatte ich mich schon lange gewohnt.
Sie sah mich zu oft mit diesen funkelnden Augen an, als würde sie etwas in mir wachrufen wollen, das vor ewiger Zeit eingeschlafen war.
Was wollte sie wirklich von mir?
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Wie sie sich mir gegenüber verhielt, wie sie sich bewegte, wie ihre Stimme sich veränderte. Traf ich sie zufällig in der Stadt oder überraschte sie in der Schule mit meiner Anwesenheit, brauchte sie immer diese eine Minute um sich selbst einen klaren Kopf zu schaffen. Warum ist mir das vorher nur nicht aufgefallen?
Mein Blick wanderte von dem grauen Fenster hinüber zum Regal über meinem Schreibtisch. Dort stand ein leicht zerknittertes Photo, angelehnt an einige Bücher. Es war in der 6. Woche nach Beginn der Schulzeit, da trafen wir uns im Café in der Stadt. Sie holte eben dieses Photo aus der Tasche und schenkte es mir. Sie meinte, dass sie es damals ganz zufällig in einem alten Fotoalbum gefunden hatte. Es zeigte sie und mich von früher.
An jenem Tag nahm ich noch an, dass das Photo deswegen Knitter drin hatte, weil sie es aus diesem alten Photoalbum heraus hatte. Was ich aber vergessen hatte, war, dass sie ständig ihre Hand in der Jackentasche hatte und wahrscheinlich nicht wusste, wann genau sie mir das Photo hätte geben sollen. Hatte sie es vor Nervosität etwa ständig in der Hand?
Plötzlich füllte sich mein Körper mit einem starken Schuldgefühl. Es fühlte sich an, als würde mich jemand mit einer schweren, kalten Decke allmählich zudecken. Riskant. Das war das Wort das mir als erstes einfiel, als ich darüber nachdachte, was passieren würde, wenn ich ihm sagen würde, dass ich ihn haben wolle. Riskant deswegen, weil ich Angst hatte, sie zu verlieren.
Was, wenn ich aber ihn verlor, wenn ich ihn nicht an mich pressen würde, wie eine Vogelmutter ihre Kinder bei Sturm?
Zwei Optionen blieben mir nun übrig. Mich einerseits entscheiden, ob ich einen von beiden verletzen wollte, oder mich nicht zu entscheiden und dafür mich weiterhin mit quälenden Fragen mein Leben sabotieren lassen.
Die Antwort war klar. Ich musste mich Entscheiden. Gab es dritte Möglichkeiten? Gab es etwas, das sie und ihn und mich glücklich machte?
Glücklich sein, was war das schon?
Ich setzte mich auf und ließ meinen Kopf in den Nacken fallen, während ich wieder hinaus in die Ferne des Winterhimmels starrte, der mir genau so viele Antworten brachte, wie ich es von einem Kleinkind hätte erwarten können.
„Warum bist du so darauf fixiert, deinem Verstand zu folgen?“, hörte ich plötzlich eine Stimme sagen. Irritiert sah ich mich um, entdeckte aber erst niemand. Ich lauschte der Stille, die CD der klassischen Musik hatte vor einigen Minuten aufgehört zu spielen.
Diese Stimme kam mir vertraut vor, ich konnte sie jedoch nicht zuordnen.
Es vergingen einige Minuten, dann starrte ich wieder hinaus in den Himmel.
„Habe ich dir nicht beigebracht, auch einmal deinem Herzen blind zu vertrauen und dich ins Glück zu stürzen?“, sprach die Stimme wieder. Diesmal, als ich meine Kopf nach vorne warf, sah ich, nachdem ich meine ausgetrockneten Lider einige Male zum blinzeln bewegte, ihn vor mir stehen.
„Bild ich mir dich ein oder… bist du wirklich hier…“, sprach ich. Ich konnte nicht glauben, das sein Geist vor mir stand. Er sollte eigentlich tot sein.
Er kam mir näher, zunächst ohne mir eine Antwort auf meine Frage zu geben. Er war transparent und sah so schön aus, wie an jenem letzten Tag, an dem ich ihn gesehen hatte.
Zeitlupenartig streckte er seinen Arm nach vorne aus und legte seine Hand auf meine Brust. Ich versuchte seine Hand zu greifen, fasste aber ins Leere. Die Luft um meinen Körper herum fühlte sich auf einmal kälter an als vorher. Dann verschwand er.
„Auf mein Herz hören…“, murmelte ich, während mir Tränen über Wangen und Lippen liefen.
Ich zuckte zusammen, als ich auf einmal aufwachte. Ich war wohl eingeschlafen. Es war Abend. Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr. Noch nicht so spät. Super.
Einmal gönnte ich es mir, tief ein und dann wieder auszuatmen. Dabei schloss ich meine Augen und ließ meine Schultern mit dem Ausatmer soweit absinken, dass ich dachte, mein Skelett fiele gleich zu Boden.
Es war an der Zeit, Schritte zu wagen. Ich musste mich entscheiden, das wusste ich jetzt. Allein für mein Glück, das ich schon so lange vergessen hatte, musste ich es tun.
„Dem Herzen vertrauen“, wiederholte ich, öffnete die Augen und ruf sie an. Die einzigen zwei Personen die mir gerade etwas bedeuteten. Ich bat beide, in das Café in die Stadt zu kommen. Ich wollte einfach mit ihnen reden.
Schnell sprang ich ins Bad, wusch mein Gesicht und zog mich an. Meiner Großtante, die gerade in der Küche saß, sagte ich nur, dass ich nicht so bald wiederkommen würde und auf das Abendessen verzichten würde.
Der Schneefall wurde stärker, mit jedem Schritt den ich vor den anderen setzte. Meine Schritte wurden schneller, je mehr von den schweren, im Straßenlicht glitzernden Funkelsternen auf mich hinabfielen und mein Haupt zudeckten, als wollten sie mich vor der erdrückenden Dunkelheit des Abends schützen. Als wollten sie mich vor all den Dingen schützen, die in der Zukunft noch auf mich zukommen sollten.
Ich schüttelte den Schnee nicht von mir ab. Ich akzeptierte ihn und lief einfach weiter. Mir kam es so vor, als würde ich durch die dicke Wolkendecke endlich die Sterne sehen können, so klar wie in einer Sommernacht, klar wie in jener Sommernacht.
Die Schritte wurden schneller, sie wurden leichter. Tief in mir, hatte ich meine Antwort gefunden und ich konnte sie bald hinausbrüllen in die Welt, die mich einschüchterte, die mich niedermachte, die mich aber auch aufbaute und versuchte mich zu heilen.
Ich wollte ihnen danken, den Personen die mich heilen wollten. Nein, die mich geheilt hatten.
Meine Hand war warm. Es fühlte sich so an, als würde er neben mir durch den Schnee laufen. Hand in Hand.
Als ich dem Café näher kam, merkte ich, wie er fester zudrückte. Dann ließ er los. Ich sah mich noch einmal um, aber entdeckte niemanden in der Dunkelheit der Umgebung. Dann öffnete ich die Tür, die mein Hereintreten mit dem Klingeln einer kleinen Glocke direkt an der Tür ankündigte. Am anderen Ende des Cafés saßen beide zusammen an einem Tisch. Ich kam ihnen näher, setzte mich dazu und fing an, es ihnen zu erzählen.