KKZ 2 – Kapitel 8 – 14

Kapitel 8 – Versteck, Rettung und Flucht
Kapitel 9 – Alayna und die Jungs
Kapitel 10 – Kioku will es wissen
Kapitel 11 – Schatten
Kapitel 12 – Einige Vorbereitungen
Kapitel 13 – Wie ein harter Schlag
Kapitel 14 – Wie Nichts


Kapitel 8 – Versteck, Rettung und Flucht

Es war dunkel in dem Raum, in dem sich Alayna immer noch gefesselt befand. Vor der Tür saß ein schnarchender Mann, der ein Nickerchen eher seiner Arbeit vorzog. Ein Glück für Alayna, die unter Kraftaufwand versuchte, ihre Hände aus den Fesseln zu befreien.
Das grobe Seil rieb ihr die Handgelenke wund. Es brannte und schmerzte fürchterlich.
„Ich muss hier unbedingt raus“, presste sie zwischen den Lippen hervor und versuchte so leise zu sein, wie sie nur konnte.
Der Knoten der Fessel war ziemlich dick. Jedoch schaffte sie es, mit ihren langen dünnen Fingern das Seil etwas auseinanderzuziehen. Jetzt musste sie den Knoten nur noch lösen. Wieso war dieser so fest gezogen?
Ein lauter Schnarcher erschreckte sie und Alayna hielt für einen Moment inne. Die Wache kratzte sich verschlafen an der Backe, plapperte etwas vor sich hin und nickte dann wieder ein.
Alayna wartete erst noch einen ruhigen Moment ab, atmete einmal tief ein und wieder aus und machte sich dann wieder an das Lösen ihrer Fesseln.

Zur selben Zeit befanden sich Kioku und Takeru nicht weit von Alayna entfernt.
„Wir sind jetzt schon ziemlich am Rande der Stadt“, meinte Kioku und sah sich um.
Hier standen lauter verlassene, heruntergekommene Häuser. In dieser Gegend hingen viele Namensschilder, Logos und Werbeplakate. Es schien so, als wären sie in einem ehemaligen Büro- und Fabrikviertel gelandet.
„Hier steht, dass es zwei Straßen weiter einen Weg gibt, der zum Lagerzentrum führt“, las Takeru vor, während er mit seiner Hand über einen verdreckten Glaskasten fuhr, der einen Lageplan des Viertels beinhaltete.
„Wir müssen vorsichtig sein. Es ist gut möglich, dass deine Schwester dort gefangen gehalten wird“, erklärte Kioku und fuhr sich mit ihrer Hand erschöpft durch die Haare.
Sie waren mittlerweile schon die ganze Nacht durch die Stadt gehetzt, auf der Suche nach Takerus Schwester.
„Sie müssen hier sein“, behauptete Takeru und sah sich nervös um, „Hier brennt es nicht, die Verwüstung findet gerade eher in der Stadt statt. Sie würden nicht ihr eigenes Versteck in Brand setzen! Außerdem habe ich das im Gefühl, dass sie in der Nähe ist.“
„Da wirst du hoffentlich Recht haben“, hoffte Kioku. „Gehen wir los!“

Alayna kämpfte mit ihren Fesseln. Sie schabte mit ihren Fingerkuppen zwischen den Seilen herum. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber das Seil schien sich wirklich etwas zu lockern. Das gab ihr einen Hoffnungsschub und sie bemühte sich umso mehr, sich aus den Fesseln zu befreien.
Ihre Schultern schmerzten. Sie musste das ganze ja hinter ihrem Rücken machen, dort wo ihre Hände an den Stuhl gebunden waren. Es tat weh und Alayna kam ins Schwitzen, obwohl es in dem Raum recht kalt war, unangenehm kalt. Es roch modrig.
Sie fühlte, wie ein Schweißtropfen ihren linken Arm hinab rann, erst über den Ellbogen und dann ihren Unterarm entlang, bis der kalte Tropfen zwischen Handgelenk und Seil verschwand.
Langsam fing sie an, zu zittern. Mit ihren aufgeschürften Fingern rutschte sie immer wieder vom Seil ab. Die Finger krampften. Es wurde immer schlimmer.
Alayna musste einfach wieder eine kurze Pause einlegen und verschnaufen. Sie schloss die Augen und dachte nach.
„Papa, Mama…“, sprach sie zu sich selbst, „Wo bin ich hier denn eigentlich gelandet? Das kann doch gar nicht wahr sein.“
Ein kalter Schauer fuhr ihr durch den Körper. Dann fing sie an zu weinen.
„Warum seid ihr nicht da und helft mir?“, murmelte sie. „Nein ich muss stark bleiben. Ich muss zu Tak zurück!“
Sie biss sich auf die Unterlippe und machte sich wieder an die Arbeit. Dann schaffte sie es und löste ihre Fesseln.
Vorsichtig rieb sie sich die schmerzenden Handgelenke und machte sich dann daran, die Fußfesseln zu lösen.

„Leise“, meinte Kioku und kniete sich an die Mauer eines Gebäudes. Takeru kniete sich hinter ihr auf den Boden.
„Ich denke, ich habe Schritte gehört“, sagte sie und beugte sich langsam vor, an die Ecke des Gebäudes und spähte daran vorbei. „Da ist jemand.“
Kioku beobachtete zwei Männer. Der eine war dunkelhäutig und hatte ein langes Schwert auf dem Rücken. Der andere Mann war etwas kleiner. Seine pechschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Kioku konnte seine Augen nicht erkennen. Der zweite Mann war komplett in dunklen, zerrissenen Stoffen umhüllt.
„Ich will auch was sehen“, forderte Tak und versuchte sich an Kioku vorbeizudrücken, diese drückte ihn aber wieder zur Seite.
„Psst!“, mahnte sie.
Die Männer standen beide so weit entfernt, dass Kioku nur Wortbrocken verstand. Aber das, was sie verstanden hatte, war für sie offensichtlich.
Als die beiden Männer wieder gingen, drehte sich Kioku zu Takeru um.
„Also, anscheinend haben die Beiden etwas mit Alaynas Gefangenschaft zu tun. Wir sollten ihnen folgen“, erklärte Kioku. Takerus Augen blitzten auf.
Die beiden gingen also den Männern hinterher. Jedoch hatte Kioku sie schnell wieder aus den Augen verloren und so verirrten sich Takeru und sie.

Vorsichtig tapste Alayna durch den dunkeln Raum. Mit ihrem Fuß stieß sie an eine Eisenstange, die auf dem Boden lag und sich nun durch Lärm bemerkbar machte. Schreckhaft hielt Alayna in ihrer Bewegung inne, balancierte auf einem Fuß und drehte ihren Kopf langsam in Richtung Tür. Die Wache war nicht aufgeweckt worden.
„Ein Glück“, flüsterte Alayna und hob die Stange vom Boden auf.
Jetzt näherte sie sich der Wache am Eingang. Ihr Schatten fiel bedrohlich auf den Mann, der am Boden saß und schnarchte.
Dann holte sie aus und verpasste dem Mann mit der Stange einen gehörigen Schlag auf den Kopf. Noch bevor er bemerken konnte, was los war, fiel er ohnmächtig zu Boden.
„Und nun?“, grübelte Alayna. „Ah ich hab‘s!“
Sie zerrte den Mann zum Stuhl, zog ihm die Kleidung aus und fesselte ihn auf den Stuhl. Alayna keuchte, als sie versuchte den Typen auf den Stuhl zu hieven. Er war richtig schwer.
Als sie das geschafft hatte, und ihn mit den Fesseln anband, hörte sie plötzlich Schritte von draußen. Sie hörte den Mann mit Narben draußen sprechen. Panisch warf sie sich die Kleidung der Wache über und stellte sich unauffällig neben die Tür. Den Kopf hielt sie gesenkt.

„Scheint so, als wären wir hier schon richtig“, sagte Takeru, während er und Kioku zusammen zwischen zwei Lagerhallen entlang gingen.
„Wir müssen wirklich vorsichtig sein!“, wiederholte Kioku zum hundertsten Male.
„Das können wir nicht, wenn du hier so rumbrüllst“, beschwerte sich Tak.
„So laut bin ich gar nic…“, wollte Kioku sagen, als sie von einem riesigen Knall unterbrochen wurde. Etwas weiter vor ihr zersprang eine Mauer und eine riesige Staubwolke tat sich auf.

Die Tür öffnete sich und der alte Mann betrat den Raum.
„So wie geht es unserem…“, er erschrak, als er merkte, dass die Wache auf den Stuhl gefesselt worden war.
Blitzartig drehte er sich zu der verkleideten Alayna um und packte sie am Hals.
Sie versuchte sich zu wehren, war aber zu schwach dafür.
Langsam hob er das Mädchen nach oben und riss Alayna die Verkleidung vom Körper.
„Da bist du ja…“, lachte er hochmütig. „Dachte schon, dir wäre etwas passiert.“
Sein Griff wurde stärker.
„Du kannst mir gar nichts!“
Alayna versuchte ihn zu treten, trat jedoch nur in die Luft. Sie röchelte. Sein Griff war zu stark geworden und sie bekam immer schlechter Luft.
„Ich will endlich wissen, wo du das Buch versteckt hast!“, brüllte der Mann.
„Ich weiß nicht, wovon du redest!“, verteidigte sich Alayna und zappelte wild umher. Doch je stärker sie sich bewegte, desto schmerzvoller wurde sein Griff.
Alayna weinte und rang nach Luft. Wenn sie das Buch hätte, würde sie es ihm niemals geben! Wie befreite sie sich jetzt am besten? Sie sehnte sich so sehr nach Hilfe.
„Ich weiß, dass du es hast!“, brüllte der Mann wieder und diesmal flogen einige Speicheltropfen umher.
„Ich habe kein Buch!“, brüllte Alayna diesmal.
Sie war verzweifelt. Irgendetwas musste sie doch machen können, aber was? Sie kniff die Augen fest zusammen und konzentrierte sich. Etwas musste sie doch machen.
Dann spürte sie auf einmal eine eigenartige, warme Energie in sich. Erst fühlte sie sich bedrohlich an, dann wurde das Gefühl immer angenehmer.
Alayna riss die Augen auf, streckte dem Mann ihre Hände entgegen und wie durch Magie schleuderte es den Mann auf einmal mit einer Druckwelle durch den Raum.
Vorsichtig schwebte Alayna langsam zu Boden und kam sicher wieder auf. Verdutzt sah sie sich ihre Hände an. Was hatte sie gerade getan?
Wütend stand der Kerl wieder auf, klopfte sich den Dreck von den Klamotten und fuhr sich mit seiner Hand einmal über sein narbenbesetztes Gesicht. Seine grauen Haare waren durch den Dreck nun eher braun. Er hatte einen wütenden Gesichtsausdruck.
Er stand auf und stürmte auf Alayna zu. Dabei ließ er ein lautes Kampfgebrüll los. Alayna wollte erst zurückweichen, bemerkte aber, dass hinter ihr die Wand war.
Der Mann kam bedrohlich nahe. Er holte zum Schlag aus und Alayna zuckte zusammen. Sie machte sich klein und kniete sich in die Hocke. Der Mann traf die Wand. Anscheinend störte ihn das weniger und holt mit seinem linken Bein zu einem Tritt aus. Also streckte sie ihre Hände wieder nach vorne aus.
‚Bitte lass es klappen!‘, hoffte Alayna und kniff die Augen zusammen.
Eine zweite und stärkere Druckwelle schleuderte den Mann diesmal durch die Wand. Eine riesige Staubwolke tat sich auf.

Takeru rannte auf die Staubwolke hinzu. Kioku wollte ihn erst festhalten und in die andere Richtung laufen, jedoch riss sich Takeru los.
„Das ist Alayna, ich weiß es!“, brüllte er und verschwand im Staub.
„Alayna, Alayna wo bist du!?“, rief er nach seiner Schwester.
Es war dunkel und staubig. Er konnte kaum seine eigene Hand sehen.
Plötzlich griff ihn von hinten jemand und drückte ihn fest an sich. Er konnte nichts sehen, aber das Schluchzen verriet ihm, dass es seine Schwester war. Obwohl sie geschwitzt hatte und voller Dreck war, roch sie vertraut. Er war glücklich.
Tak hob seine Arme und umschloss den Körper seiner Schwester.
„Ich hab nach dir gesucht!“, stotterte er, während Tränen seine Wangen hinabliefen.
„Ich hab dich auch vermisst“, antwortete seine Schwester leise. Dann ließ sie wieder los.
Schnell wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.
Dann kam auch Kioku hinzu.
„Takeru, Alayna, seid ihr das?“, fragte sie vorsichtig, als sie über die Trümmer kletterte.
„Ja“, antwortete ihr Alayna.
„Was ist hier los?“, fragte Kioku.
„Das kann ich euch unterwegs erzählen, wir müssen jetzt echt los!“
Takeru sah sie zuversichtlich an.
„Wir haben deine Sachen, wir können gleich los!“
„Auf geht’s!“, meinte Kioku und kletterte zurück über die Trümmer. Dann flüchteten sie.

Kurz danach kam ein Schwertkämpfer zum Schauplatz des Kampfes. Der alte Mann gelangte wieder an Bewusstsein. Er stieß einige Trümmer von seinem Körper weg und stand auf. Doch bevor er richtig stehen konnte, hatte der Schwertkämpfer sein Schwert schon gezogen und zugeschlagen. Kraftlos fiel der Körper des Alten wieder zurück auf die Trümmer.
„Sie konnte sich also selbst befreien. Dann muss ich sie gar nicht immer beschützen“, murmelte der Mann vor sich hin und verschwand dann in der Morgendämmerung.

Bald kamen die Drei zu einem Wald. Dort gönnten sie sich die erste Rast. Erschöpft ließen sie sich vor Bäumen nieder. Es war schon Morgen, als Alayna dazu kam, ihre Geschichte zu erzählen.


Kapitel 9 – Alayna und Eimi

Die Luft war stechend kalt, die Sonne schien hell und klar vom Himmel und von ihrem jetzigen Stand dauerte es nicht mehr lange, bis sie untergehen sollte.
Es war Nachmittag, als Kioku, Alayna und Takeru sich müde auf einer Parkbank niederließen. Sie hatten einen ganzen Tagesmarsch hinter sich gebracht und kamen in Hakata an, einer recht großen Stadt.
„Es sieht wirklich schlecht aus“, brummte Kioku und scharrte mit ihrem Fuß im erdigen Boden. „Diese Mistkerle haben uns unser Geld gestohlen.“
Die Stimmung war mies. Ohne Geld konnten sie sich kein Hotelzimmer nehmen und mussten also im Park kampieren.
„Wie gern ich jetzt in eine heiße Badewanne steigen würde“, sehnte sich Alayna und fuhr sich schwärmend mit der Hand über ihre Wange.
„Jetzt ist die Frage, was wir machen. Wollt ihr wirklich auf der Parkbank schlafen?“, fragte Kioku, die in ihrer Tasche nach etwas Essbarem suchte.
„Vielleicht können wir einen der Einwohner fragen, ob wir bei ihnen übernachten können!“, meinte Takeru und fand seine Idee toll.
„Ich glaube nicht, dass wir da eine Chance haben“, seufzte Alayna, „Ich würde auch keine Fremden mehr bei uns übernachten lassen.“
„Aber vielleicht haben wir ja eine Chance, Alayna. Wenn die Leute sehen, dass ihr noch Kinder seid…“
„Ich bin kein Kind mehr!“, beschwerte sich Alayna, „Ich bin immerhin schon 16.“
„Wie du immer auf darauf herumreiten musst“, beschwerte sich Takeru und sah seine große Schwester grimmig an. „Es hieß immer, Alayna darf dies, sie darf das, nur weil sie älter war!“
Er verschränkte schmollend seine Arme.
„Das habe ich mir von Mama und Papa auch hart erarbeiten müssen! Du weißt doch gar nicht was du redest!“, brüllte Alayna.
Kioku saß zwischen den Beiden und hörte sich das Gebrülle an. Sie verstand, dass es ein langer, anstrengender Tag war, dass die letzten Ereignisse nicht gerade erfreulich waren und dass man da etwas genervt war von allem. Aber das war doch lange kein Grund, einen Streit anzufangen, vor allem wenn es darum ging, eine Übernachtungsmöglichkeit zu organisieren.
Doch bevor sie dazwischen gehen konnte, ging Alayna weg.
„Ich komm später wieder!“, rief sie über ihre Schulter. Dann war sie weg.

Alayna fasste es nicht. Erst musste sie die schlimmsten Torturen ihres Lebens ertragen und sich dann von ihrem nervigen Bruder auch noch so etwas gefallen lassen. Konnte sie keiner verstehen? Sie war müde, hungrig und kraftlos.
Sie schlenderte aus dem Park, vorbei an einigen Häusern, bis sie zu einer kleinen Gasse kam. Dort lehnte sie sich mit ihrem Rücken an die schmutzige Wand, und ließ sich zu Boden nieder. Sie zog ihre Beine ganz nah an sich heran. Sie fror.
Dann kullerten die ersten Tränen. Sie nahm ihre Hände vor ihr Gesicht und schluchzte tief.
Plötzlich erschreckte sie, als lachende Jungs an ihr vorbeiliefen. Vor Schreck hielt sie kurz den Atem an und schaute auf. Weg waren sie.
Alayna zog ihre Nase hoch und wischte sich mit ihrer kalten Hand einige Tränen aus dem Gesicht. Es war ruhig. Dann zog sie wieder ihre Nase hoch.
„Brauchst du ein Taschentuch?“, fragte plötzlich ein Junge.
Sie sah hoch und sah ihn. Er war größer als Alayna und stand da, an der Wand von einem anderen Haus gelehnt. Er hatte kurze, blondbraune Haare und sein strähniger Pony fiel ihm ins Gesicht. Er trug einen mit Mustern verzierten Wollpullover.
„So hübschen Mädchen wie dir, steht es nicht, in so einer Gasse zu sitzen und zu weinen.“
Er war auch noch ein Charmeur.
‚Super‘, dachte sich Alayna. Das konnte sie gerade am wenigsten gebrauchen.
Er ging von der Wand weg und beugte sich zu Alayna hinunter.
„Willst du nicht lieber aufstehen?“, fragte er liebevoll.
Er war mit seinem Gesicht so nah an sie herangekommen, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Von ihm ging auf einmal so eine angenehme Wärme aus. Und seine Stimme war auch gar nicht so schlimm. Eher angenehm und beruhigend. Vielleicht war er doch gar nicht so schlimm.
Seine grünen Augen sahen Alayna durchdringend an. Sein Blick hatte etwas forderndes, aber dennoch war es irgendwie positiv. Alayna merkte nicht, wie ihr Herz langsam schneller schlug und ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was sollte sie nur sagen?
„Nun gut, wenn du das so willst“, meinte der Junge, nahm Alaynas Hand und legte ihr sein Taschentuch in die Handfläche.
Seine Finger waren so angenehm warm und sanft.
Schatten fiel auf einmal in die Gasse.
„Kommst du endlich?“, forderte ein Junge mit Mütze, der plötzlich vor der Gasse stand.
„Was machst du da eigentlich?“, fragte ein anderer Junge, dessen rote Haare ihm ins Gesicht fielen.
„Ich komm ja schon“, meinte er und sprach noch einmal zu Alayna, „Also dann, pass auf dich auf, ja?“
Er stand auf und verschwand mit seinen Freunden.
Das ging Alayna zu schnell. Sie stand auf und lief ihnen hinterher.
„Halt!“, rief sie, „Wartet doch!“

Kioku stieß einen lauten, schweren Seufzer los.
„Läuft das immer so, zwischen euch?“, hakte sie nach.
Takeru sagte nichts.
„Sie ist weg, du kannst ruhig mit mir reden.“
Doch wieder kam keine Antwort. Er stand auf, und setzte sich auf eine Bank, die sich etwas weiter weg befand.
Kioku raufte sich die Haare.
„Ist das das, was man Geschwisterliebe nennt?“
Dass sich Alayna und Takeru streiten mussten, war die eine Sache, aber dass sie sich von ihm jetzt auch noch hatte anschweigen müssen, ging ihr zu weit. Deswegen holte sie etwas Brot aus ihrer Tasche und aß erst einmal.
Takeru schmollte. Immer war er der kleine, der schwache, der nichts durfte. Er war das Kind und das fand er wirklich unfair. Alayna hatte schon immer darauf bestanden, mehr zu dürfen und mehr zu machen. Von wegen, dass sie es sich erarbeitet hatte. Das war eine Lüge. Wenn es um Arbeit ging, überredete sie immer Takeru diese zu machen und komischerweise fiel er immer darauf herein. Doch jetzt war Schluss damit! Auch Takeru konnte die Verantwortung eines Erwachsenen übernehmen.
Er wusste nicht, wohin ihn seine Gedanken geführt hatten, wieso es plötzlich darum ging und wieso er plötzlich weinen musste. Er wusste es einfach nicht.
Deswegen holte er das Tagebuch seines Vaters aus der Tasche. Vorsichtig strich er mit seinen Fingern über den Einband. Es fühlte sich toll an. Dann schlug er die Seiten auf.
Sie waren mal wieder leer. Doch beim Durchblättern fand er irgendwo in der Mitte einen kleinen Eintrag.
„Ich bin froh, nicht allein zu sein.“
Takeru schloss das Buch wieder und drückte es fest an seine Brust. Papa, wo war er nur?
Kioku beobachtete das alles, von der anderen Seite. Was hatte Takeru da nur für ein Buch?

„Oh, will sich die stumme Dame bedanken?“, meinte der nette Junge, als er sich zu Alayna umdrehte.
„Warte, ehm, also…“, Alayna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schluckte, als sie neben ihm, noch zwei weitere Jungs sah. Der eine trug den Kragen seiner Jacke weit nach oben und die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass man nur seine gelben Augen und einige grüne Haarsträhnen sehen konnte. Der andere trug einen schwarzen Pullover und einen hellblauen Schal. Seine roten Haare fielen ihm ins Gesicht, dass man nur schwer seine dunklen Augen erkennen konnte.
„Jetzt wird sie schon rot“, meinte der Junge, der die Mütze trug.
„Lass das Mädchen doch in Ruhe, Krau!“, beschwerte sich der Rothaarige, „Das ist doch allein Eimis Sache.“
„Also ich geh jetzt, es gibt bald Abendessen“, murmelte Krau und ging weiter.
„Heute hat er mal wieder seine beste Laune“, entschuldigte sich der Junge mit den roten Haaren.
„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“, meinte Eimi, der sich mit seiner Hand einmal durch die Haare fuhr.
„Also ehm…“, Alayna war sichtlich verwirrt, „Ich, ich meinte…“
„Ja?“, hakte Eimi nach und kam ihr wieder so nahe wie vorhin.
„D… Danke für dein Taschentuch… Aber…“, stotterte sie. Was war denn mit ihr nur los? Wieso konnte dieser Typ sie so durch den Wind bringen?
Plötzlich grummelte es ganz laut. Alayna stieg die Röte ins Gesicht, denn es war ihr leerer Bauch, der sich da meldete.
Der rothaarige Junge musste sich ein Grinsen verkneifen und meinte nur so etwas wie: „Wird wohl Zeit fürs Abendessen.“
Dann drehte er sich um und ging ebenfalls.
Eimi lächelte Alayna an, die sich nun nicht mehr traute, irgendetwas zu sagen.
„Gern geschehen. Aber wie es mir scheint, würdest du gern etwas essen?“, stellte Eimi fest, „Dann komm doch mit, bei uns gibt es bald Abendessen! Wenn du willst, darfst du gerne mitessen. Vorausgesetzt du findest Krau und Ensei nicht so schlimm.“
„Ja… ehm… ja klar, gerne“, freute sich Alayna.

Mittlerweile wurde es schon etwas dunkler. Kioku machte sich Sorgen.
„Ich möchte nicht, dass deiner Schwester wieder etwas passiert. Es wäre wohl ratsam, nach ihr zu suchen“, versuchte sie Takeru zu überzeugen.
„Ja“, antwortete der Junge und stand auf. Das Tagebuch hatte er schon lange wieder zurück in seine Tasche gepackt.
„Mir tut es doch auch Leid, dass ihr euch so streiten musstet, aber das hat ja alles keinen Zweck. Sie ist immerhin deine Schwester.“
„Mh“, gab Takeru von sich und lief still neben Kioku her.
„Weißt du, wenn ich Geschwister hätte, würde ich mich freuen“, Kioku verschränkte ihre Arme hinter ihrem Kopf während des Gehens. Sie blickte immer wieder in den Himmel. Man konnte schon die ersten Sterne sehen. Die Straßenleuchten der Stadt gingen an.
Sie verließen den Park und gelangten bald an eine Straße, deren Häuser mit riesigen Gemälden verziert waren. Alles in allem sah das sehr Kunstvoll aus.
„Ich meine, dann hat man immer jemanden, der einem helfen kann. Oder zu dem man gehen kann, wenn man sich mit seinen Eltern streitet. Jemanden, mit dem man einen Tag verbringen kann, auch wenn man Stress hat, aber man weiß, dass am nächsten Tag wieder alles in Ordnung ist.“
Kioku machte eine kleine Pause. Sie hörte, wie Takeru kurz schniefte.
„Ich denke, Tak, ihr solltet euch einfach die Hand geben, euch entschuldigen und alles ist wieder in Butter.“
Sie klopfte ihm auf den Rücken und lachte lauthals, um irgendwie diese angespannte Situation aufzulockern.
Takeru lächelte leicht. Er erinnerte sich daran, wie oft er und Alayna früher gestritten hatten, aber es wirklich am nächsten Tag wieder in Ordnung war.

Alayna war erstaunt, als sie endlich am Ziel ihrer kurzen Reise ankamen. Es war ein Waisenhaus.
Sie traute sich gar nicht, Eimi darauf anzusprechen, ob er ein Waisenkind war, deswegen akzeptierte sie diesen Fakt und folgte ihm in das kleine Haus. Die Gänge waren durch Kerzen beleuchtet, die an Kronleuchtern befestigt waren. Am Ende des Ganges befand sich eine Treppe, die nach oben ging. Links und rechts befanden sich einige Türen.
Kleinere Kinder rannten plötzlich von einem ins andere Zimmer. Man hörte Poltern, Gespräche, Lachen und Schreie. Je länger sich Alayna darauf konzentrierte, was in diesem Haus vor sich ging, desto mehr fiel ihr auf.
Eimi nahm ihr die Jacke ab und führte sie in den großen Speisesaal, in dem schon einige Kinder an Tischen saßen und aßen.
„Gut, dass ihr ohne uns angefangen habt“, lachte Eimi und setzte sich zu Krau und Ensei an den Tisch. Krau hatte seine Jacke ausgezogen, ihm hing die Mütze aber dennoch bis über die Augen. Ensei lächelte Alayna an und bot ihr einen Platz neben sich an, in dem er den Stuhl zurechtschob.
Neben ihm saß ein kleines Mädchen, mit blonden Haaren. Sie zupfte ständig an seinem Pullover herum. Vor ihr lagen einige Haarspangen und Haargummis.
„En, En! Ich will dir eine andere Spange rein machen!“, jubelte sie und zog Ensei näher an sich heran.
Dieser sah etwas gequält zu Alayna. Sein entschuldigender Blick war Erklärung genug. Dann wechselte das kleine Mädchen die Haarspange mit einer neuen Haarspange aus. Jetzt trug er eine, mit einem Gänseblümchenmuster.
„Was man nicht alles für die Kleinen macht“, erklärte er sich.
Alayna setzte sich still hin und schon war Eimi wieder an ihrer Seite, um ihr einen Teller mit heißer Suppe zu geben.
Am anderen Kopfende des Tisches saß Krau, der genervt in seine Suppe starrte und Löffel für Löffel zum Mund führte. Er pustete nicht. War ihm das etwa nicht zu heiß?
„Ist das wirklich in Ordnung?“, fragte Alayna nach und sah sich besorgt um.
„Keine Sorge, wir haben hier genug für jeden zu essen!“, grinste Eimi und nahm seinen ersten Löffel.
„Wenn das so ist“, murmelte Alayna und fing nun auch zu essen an.
Die Kinder an den anderen Tischen tobten und lachten, einige spielten lieber mit ihrem Spielzeug, als zu essen.
Es dauerte etwas, dann waren auch Alayna und Eimi mit dem Essen fertig. Sie blieben noch etwas sitzen.
„Was machst du denn hier, in Hakata? Ich hab dich vorher noch nie gesehen“, hakte Eimi nach.
„Ich bin hier auf Durchreise“, erklärte Alayna sich, „Zusammen mit einer Freundin und meinem Bruder.“
„Du hast einen Bruder? Okay, wohin wollt ihr denn? Wo sind deine Eltern?“, fragte Eimi weiterhin. Krau und Ensei folgten dem Gespräch.
„Das ist… ehm…“, stammelte Alayna.
„Ich versteh schon“, lächelte Eimi und nahm ihre Hand. „Ihr zwei bleibt hier, vielleicht tauchen ihre Freundin und der kleine Bruder auch auf!“
Dann ging er mit ihr am Fenster vorbei, hinaus aus dem Speisesaal und verschwand durch den Hinterausgang des Waisenhauses mit ihr.

„Da hab ich sie gesehen!“, rief Takeru, als er an einem großen Haus vorbeiging. „Dort im Fenster war sie grad, mit einem Jungen!“
„Wirklich?“, wunderte sich Kioku.
„Ich bin mir ganz sicher!“, wiederholte er und zog Kioku zurück zu dem großen Gebäude.
Die Tür war dunkel und massiv. Als sie klopften, hörten sie kurze Zeit später Schritte. Ein älterer Mann öffnete.
„Was kann ich für euch tun?“, fragte der Mann, der sichtlich von dieser Kombination junger Mutter und schon älterer Sohn verwirrt war.
„Ich bin hier, um meine Schwester zu suchen, die ist hier!“, meinte Takeru.
„Wir suchen Alayna, haben Sie sie gesehen?“, fragte Kioku.
„Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?“
Der alte Mann hatte einen Bart, seine Haare waren an den spitzen etwas grau. Er trug ein weißes Hemd und ein Halstuch.
„Ich bin Kioku, das ist ein Freund von mir, Takeru. Wir suchen seine Schwester, die vorhin nur kurz einmal spazieren gegangen war. Takeru meinte, sie gerade im Fenster gesehen zu haben.“
„Dann kommt doch mal herein“, begrüßte sie der Mann, „Ihr müsst mich nicht siezen. Mein Name ist Chojiro, ich bin der Leiter dieses Waisenhauses. Wenn ich ein neues Mitglied unserer großen Familie hätte, würde ich das sofort wissen. Nun weiß ich aber nicht, wen die großen Jungs immer mit rein und rausnehmen.“
Chojiro seufzte.
„Das alles ist natürlich schwer, wenn man so viele freiwillige Unterstützer hat, die nicht an die engen Regeln des Waisenhauses gebunden sind“, versuchte er sich zu erklären.
Kioku und Takeru folgten ihm in den Speisesaal.
„Hier hast du sie gesehen?“
Takeru nickte.
„Vielleicht finden wir sie hier ja“, schlug Chojiro vor und sah sich um.

Eimi ging mit Alayna etwas spazieren.
„Hast es wohl schwierig, oder?“, hakte Eimi nach.
„Das kannst du laut sagen!“, seufzte Alayna und starrte in den dunklen Nachthimmel.
„Es fing alles damit an, dass mein Dad plötzlich abhauen musste, mein Bruder auf die Idee kam ihm hinterher zu stiefeln, deswegen unser Haus in Brand gesetzt wurde, uns irgendsoein Schwertkämpfer dann weggeschickt hatte, wir deswegen auf Reisen sind, in eine riesige Verwüstung kamen, ich von diesen Leuten in Schwarz entführt worden bin, mein Bruder und ich eigentlich immer noch unseren Vater suchen, wir keine Ahnung haben, was mit unserer Mutter passiert ist, und wir nun hier sind! Ohne Geld und ohne Essen…“, Alayna machte während des Redens keine Pause.
„Wowowow, halt mal. Entführung? Verschwundener Vater? Männer in Schwarz?“, Eimi war überrascht über das, was ihm Alayna erzählte.
„Ja, es ist schrecklich…“, murmelte sie, „Ich kann es auch fast nicht glauben.“
„Aber irgendwie auch spannend.“
„Wie, spannend!?“, brüllte Alayna, „Spinnst du? Ich würde das liebend gern wieder gegen mein altes Leben eintauschen!“
„Und wie sah das aus? Du warst Zuhause, hast dich um deine Freunde gekümmert und den ganzen Tag nur langweilige Sachen gemacht? Das hier ist die Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben!“
„Ganz sicher nicht. Das ist Wahnsinn!“, verteidigte sich Alayna. Was wollte Eimi eigentlich? Er brauchte sich doch gar nicht in ihre Angelegenheiten mit einmischen!
„Weißt du“, fing Eimi an und wurde dabei still, „In dieser Stadt gibt es viele Waisenkinder. Vor einigen Jahren war hier ein schlimmer Zustand. Chojiro, der Besitzer des Waisenhauses hat sich stark dafür eingesetzt, dass es den Kindern gut geht. Und obwohl sie nichts haben, geht es ihnen jeden Tag prima. Die Kleinen träumen davon, einmal hinaus in die weite Welt zu gehen und ein spannendes Leben zu haben.“
„Träumst du auch davon?“, unterbrach ihn Alayna.
Während er sprach, sah er so konzentriert aus. Als wüsste er genau, was er in seinem Leben erreichen wollte. Alayna war verwirrt. Einerseits nervte sie es, dass er sie so leicht durchschaut hatte, andererseits war sie fasziniert von seinem starken, fesselnden Charakter.
„Mein Leben war so langweilig. Meine Eltern arbeiten den ganzen Tag und ich hatte nie etwas zu tun. Irgendwann freundete ich mich dann mit den Waisenkindern an und irgendwie bin ich dann als Unterstützer in die Sache hineingeraten. Mich den ganzen Tag mit den Kindern zu beschäftigen, ist das einzig sinnvolle, was ich gerade zu Stande bringe. Jedoch nicht mehr.“
„Wie, du bist gar kein Waisenkind?“, wunderte sich Alayna.
„Nein, ich wohne noch Daheim.“
„Und du kümmerst dich um all die Kinder?“
„Klar“, sagte Eimi stolz, „Die sind wie eine zweite Familie für mich! Ich spiele mit ihnen, höre ihnen zu, passe auf sie auf. All das tu ich…“
„Das ist echt schön von dir“, meinte Alayna. Ihr Herz fing wieder an schneller zu schlagen.
„Aber wie ich sehe, hast du es auch nicht leicht.“
„Das kannst du laut sagen“, lachte Alayna.
Eimi lachte ebenfalls.
„Sag mal, Alayna“, unterbrach Eimi und sah sie durchdringend an, „Das ist jetzt etwas unhöflich, aber… Darf ich euch auf eurer Reise begleiten?“

 


Kapitel 10 – Kioku will es wissen

„Wir essen erst mal“, schlug Chojiro vor, „Die Kinder haben jetzt schon gegessen, dann können wir dies in Ruhe tun. Ich lade euch ein.“
„Das ist sehr lieb“, antwortete Kioku und folgte Chojiro.
Er ging zum anderen Ende des Speisesaals und setzte sich an einen kleinen, alten Tisch, dessen Lack schon leicht abblätterte und an dem gerade einmal drei Personen Platz hatten.
Ein älterer Junge mit Schürze kam und brachte drei Teller mit Suppe. Dazu stellte er einen Korb mit Brot auf den Tisch. Takeru war der erste, der sich etwas von dem Brot nahm. Kioku zögerte erst etwas, ließ Chojiro wählen und begutachtete dann Suppe und Brot. Als diese dann jedoch ganz gut aussahen und lecker rochen, griff sie auch zu.
„Lasst es euch schmecken“, wünschte Chojiro und brach sein Stück Brot in kleine, mundgerechte Teile. Einige davon versenkte er in seiner Suppe. Auch Takeru brach sein Brot etwas kleiner.
Kioku war die einzige, die direkt vom Brot abbiss.
„Wie ist das denn mit den Waisen?“, fragte Kioku aus reiner Höflichkeit und sah neugierig dabei zu, wie die letzten Kinder den Speisesaal lachend verließen.
Takeru war ganz still. Er sagte nichts und aß in Ruhe seine Suppe.
„Es läuft ganz gut“, erklärte Chojiro und nahm noch einen Löffel. „Die Kinder sind alles Waisen. Wir haben sie entweder gefunden oder sie kamen von allein zu uns. Die Großen kümmern sich ganz gut um die Kleinen. Außerdem haben wir freiwillige Helfer aus der Stadt. Das läuft alles recht selbstständig. Klasse Sache.“
Kioku kommentierte das mit einem „Mh“, auch als Chojiro anfing darüber zu reden, wie das Waisenhaus denn finanziert würde. Sie bekam nur die Begriffe „Bürgermeister“ und „Unterstützung“ mit, da ihre Gedanken ziemlich schnell wieder abschweiften. Wieso konnte sie sich gerade so schlecht konzentrieren? Lag es daran, dass Alayna schon wieder nicht hier war und sie schon wieder allein auf Tak aufpassen musste?
Es war schrecklich, vor allem weil Alayna dieses Mal mit einem fremden Jungen hatte abhauen müssen, wie ihr vorhin zwei Jungs erzählt hatten.
Takeru war auch so auffällig ruhig. Ob er es eingesehen hatte, dass der Streit zwischen ihm und seiner Schwester wenig Sinn hatte? Irgendwie ging Kioku auch dieses Buch nicht mehr aus dem Kopf. Das hatte er doch vorher nie ausgepackt? Sie hatte ein komisches Gefühl dabei.
„… und weswegen treibt ihr euch in dieser Stadt herum?“, unterbrach Chojiro ihre Gedanken.
„Wir sind eigentlich nur auf Durchreise“, antwortete Takeru für sie.
„Wohin geht die Reise denn?“, hakte Chojiro nach und lächelte.
Kioku sah zu Takeru und zog dabei eine Augenbraue nach oben. Er zuckte mit den Schultern.
„Wir möchten zur Küste. Ein gewisses Ziel haben wir noch nicht“, erklärte Kioku.
„Kommt mir bekannt vor“, murmelte Chojiro, „Ich kannte da mal so eine Gruppe, die auch ohne bestimmtes Ziel durchs Land reisten.“
Er lachte.
„Wollte ihr nicht heute Nacht hier bleiben? Dann könnt ihr wenigstens im Warmen schlafen.“
„Wirklich?“, Kioku staunte und ihre Augen strahlten, „Das wäre echt super!“
„Klar“, antwortete Chojiro locker, „Ein paar Betten haben wir immer frei.“
Takeru sagte dazu nichts und aß seine Suppe auf. Kioku aber freute sich riesig.
„Ensei zeigt euch später euer Zimmer“, erklärte Chojiro und zeigte auf den Jungen, der Kioku vorhin von Alayna und dem Jungen erzählt hatte.
„Das ist wirklich lieb, Danke“, bedankte sich Kioku und aß ebenfalls auf.
Als auch der Chef des Waisenhauses sein Mahl beendet hatte, wurden Kioku und Takeru auf ihr Zimmer gebracht. Es befand sich unter dem Dach und durch das schräge Fenster fiel fahles Mondlicht. Das Bett stand neben der Türe und wurde knapp von Mondlicht beschienen. Der Raum war klein.
„Vielen Dank“, bedankte sich Kioku bei Ensei, der sich mit einem Winken verabschiedend wieder ging.
Es war ein Stockbett, dessen Matratzen mit einem grünen Stoff bezogen waren. Kioku setzte sich in das untere Bett, da Takeru schon gleich nach oben sprang. Sie fühlte die harte Matratze unter sich. Sie war kalt und der Bezug hatte eine merkwürdige Oberfläche, die nicht ganz glatt und auch nicht rau war. Aber wenigstens hatten sie eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden.
Und was war mit Alayna? Kioku machte sich Sorgen.
„Was ist mit Alayna?“, kam die Frage vom oberen Bett.
„Wenn sie mit Eimi zusammen ist, dann passiert ihr nichts“, meinte plötzlich ein Junge mit Wollmütze, der im Türrahmen stand.
Kioku erinnerte sich, das war der zweite Junge, der ihr von Alayna erzählt hatte.
„Wie heißt du?“
Irgendwie konnte sie diesem Jungen aber nicht so viel Vertrauen entgegenbringen, wie dem rothaarigen Jungen.
„Ich heiße Krau“, antwortete er knapp.
„Sicher?“, fragte Takeru, der ihn mit schmalen Augen ansah.
„Ich habe deine Schwester vorhin kennenlernen dürfen, so wie ich sie einschätze, verlässt sie Eimi nicht so leicht“, erklärte Krau in einem überheblichen Ton.
Dann drehte er sich um und ging einfach, ohne eine Reaktion darauf zu erwarten.
„Was für ein komischer Typ“, murmelte Takeru und platzierte sein Gesicht auf dem Kissen. Dann hörte man ein dumpfes Stöhnen.
„Das stimmt“, seufzte Kioku.
„Denkst du, Alayna kommt heute Nacht wieder?“, fragte Takeru, der seinen Kopf so auf die Seite drehte, dass Kioku ihn verstehen konnte.
„Bestimmt Tak…“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Wir sollten jetzt schlafen. Deine Schwester finden wir morgen und dann reisen wir weiter.“
„Mhh…“
„Gute Nacht, Tak.“
„Nacht.“

Als einige Zeit vergangen war, und Takerus Schnarchen noch stärker wurde, stand Kioku auf. Sie konnte es vor Neugierde kaum fassen. Doch ihre Moral hielt sie erst noch davon ab, sich an Takerus Sachen zu vergreifen. Sie stellte sich an das Fenster und sah in den Himmel hinauf. Der Mond war schon fast wieder unter gegangen. Die Sterne leuchteten hell. Von draußen vernahm sie ein Murmeln, als ob sich jemand unterhalten würde.
Was hatte es mit dem Buch auf sich?
Vorsichtig ging sie zu der Ecke, in die Tak seine Sachen geschmissen hatte, beugte sich hinunter und öffnete seine Tasche. Dort fand sie das Buch. Sie nahm es zurück zum Fenster und öffnete es.
Doch neben einem Satz auf der ersten Seite, stand nichts darin. Was wollte Takeru denn dann mit diesem Buch?
Aber der erste Satz gab überhaupt keinen Sinn. Wer war Ginta noch einmal? Ach, das war der Vater der Zwei.
Kioku wollte sicher gehen. Sie blätterte Seite für Seite durch. Da musste doch etwas sein. Das konnte ja nicht Takerus Tagebuch sein?
Es dauerte etwas, dann fand sie wirklich einen Eintrag, fast am Ende des Buches.

„Ama ist sehr still. Das mag ich an ihm. Ich denke, ich kann mich gut mit ihm verstehen. Außerdem ist er stark und mag Oto sehr.“

Wer waren Ama und Oto? Aus diesem Buch wurde Kioku einfach nicht schlau. Sie schlug es zu und steckte es zurück in die Tasche.
Irgendwie waren die Kinder für sie ein größeres Geheimnis, als sie vorerst angenommen hatte. Mit einem unruhigen Gefühl legte sie sich wieder ins Bett und schlief.

 Am nächsten Morgen verließ Kioku ziemlich früh das Haus. Takeru ließ sie noch etwas schlafen. Sie musste ihren Kopf erst einmal klar bekommen. Die frische Kühle war ganz angenehm. Sie lief etwas durch die Straßen.
Als sie nach einiger Zeit des Laufens und Wölkchen-in-die-kalte-Luft-Pustens wieder zurück zum Waisenhaus ging, kam ihr Alayna in Begleitung eines Jungen entgegen.
„Da bist du ja“, mahnte Kioku Alayna und musterte dabei den Jungen.
„Tschuldige“, meinte Alayna, als sie merkte, dass in Kiokus Stimme ein miesgelaunter Unterton mitschwang.
„Schon gut. Wer ist das?“, hakte sie nach.
„Ich bin Eimi. Eimi Gage“, antwortete Eimi, als müsste er sich Alaynas Mutter vorstellen. Dann streckte er Kioku seine Hand entgegen. Doch Kioku erwiderte seinen Händeschlag nicht. Dann zog er unenttäuscht seine Hand zurück. Er lächelte.
„Wo warst du die ganze Nacht? Ich habe mir Sorgen gemacht“, meinte Kioku kühl. Sie wollte nicht wie ihre Mutter klingen, aber dennoch ehrlich sein.
„Eimi und ich haben geredet“, erklärte sie, „Er möchte uns auf unserer Reise begleiten.“
„Möchtest du das?“
Eimi nickte wild. Sein Lächeln war wirklich freundlich und seine Augen klar. Kioku überlegte sich, was sie sagen sollte. Einerseits wusste sie nicht so recht, ob das gut war, andererseits hatte sie keine Argumente gegen den Jungen. Was machte das schon? Konnte sie denn überhaupt in ihrer Lage darüber entscheiden? Sie selbst ging doch mit Alayna und Takeru mit, obwohl es nicht ihre eigene Reise war.
Dann ließ sie ihre miese Laune fallen.
„Würde mich freuen, wenn du das tust. Dann haben wir einen Mann an unserer Seite.“
Nun lächelte Kioku ebenfalls und streckte ihm die Hand hin. Dann schüttelten sie ihre Hände.
„Tak hat sicherlich nichts dagegen, wenn er dich erst einmal kennenlernt“, grinste Alayna.
Kioku verstand sofort, weswegen Alayna Eimi an ihrer Seite haben wollte. Einerseits waren Takeru und Alayna in manchen Situationen leicht zu durchschauen, andererseits konnte sie die beiden aber nur schwer verstehen. Damit musste Kioku aber klar kommen. Wichtiger war es, Eimi Vertrauen zu schenken.


Kapitel 11 – Schatten

Es war Nachmittag. Die Sonne und die warme Luft brachten den Schnee zum Schmelzen. Einige Tauben stürzten sich auf trockenes Brot, welches ihnen eine alte Frau zuwarf. Kioku trennte sich von Alayna, Takeru und Eimi, die sich zusammen die Stadt anschauen wollten. Sie musste nachdenken, deswegen blieb sie allein und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Sie hatte kein Problem mit Eimi, dennoch brauchte sie jetzt irgendwie eine Verschnaufpause. In den letzten Tagen war so viel passiert, was sie jetzt etwas durcheinander brachte. Was tat sie sich da eigentlich an? Irgendjemand sollte sich um die Kinder kümmern, denn in dieser gefährlichen Welt konnten die Kinder nicht alleine sein. Vielleicht war es dieses Muttergefühl, das sie dazu brachte, mit Alayna und Takeru zu reisen. Vielleicht war es aber auch Neugierde.
Die beiden hatten etwas an sich, das Kioku half, sich selbst besser kennenzulernen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf der Suche nach ihrer eigenen Identität war. Aber wenn sie in der Nähe von Takeru war, wusste sie, wohin sie gehen musste. Wenn sie bei Alayna war, wusste sie, von wem sie lernen konnte.
Bevor dies alles geschehen war, sah sie nur Schatten. Es waren Schatten, die die aufgehende Sonne verdeckten, welche, die fremde Menschen verschwimmen ließen. Jeder Tag war ungreifbar und aufs Neue eine große Herausforderung. Wie kam man denn zurecht, wenn man nicht wusste, wer man war und woher man kam?
Das, was Kioku noch mehr zu schaffen machte, als nichts über sich selbst zu wissen, war, dass die Männer in Schwarz anscheinend mehr über sie wussten als sie selbst. Wieso auch immer sie verfolgt wurde, da musste ein gewisser Grund dahinter stecken.

Vorsichtig drehte sie sich um, sie wollte sicher gehen, dass sie niemand verfolgte. Kioku nahm zwar im Augenwinkel einen Schatten war, aber bevor sie sich darauf konzentrieren konnte, war dieser schon weg.
„Bestimmt nur ein Vogel“, murmelte sie vor sich hin und ging weiter.
Kioku nahm die bunten, farbenprächtigen Häuser etwas mehr unter die Lupe. Jedes davon war mit einem riesigen, wunderschönen Gemälde verziert. Sie hatte das Gefühl, durch ein Kunstmuseum zu laufen. Während man beim einen den Zusammenknall von krassen, intensiven Farben sah, erkannte sie auf anderen Meere, Wälder und Wesen, die wohl nicht von dieser Welt waren. Man sah Landschaften, Visionen, Träume, Farben und Formen in jeder erdenklichen Komposition. Ihr fiel nicht auf, dass sie immer schneller wurde, um noch mehr der Bilder zu sehen. Sie folgte den Abzweigungen und Gassen und bald hatte sie sich im Wirrwarr der bunten Häuser verirrt.

Takeru wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Erst ließ seine Schwester ihn alleine und dann kam sie mit einem fremden Jungen wieder. Er mochte es nie, wenn sie Jungs mit nach Hause brachte, weil er ihr dann immer so peinlich war. Nie konnte er sich eingliedern und die meisten Jungs hatte er nur von hinten gesehen, bevor ihn Alayna anmachte, doch in sein Zimmer zu verschwinden. Es war schrecklich für ihn.
Doch Eimi war anders. Vom ersten Moment an, sah er Takeru direkt in die Augen. Das Grün seiner Iris war dabei so heftig, dass sich Takeru irgendwie durchschaut gefühlt hatte. Eimi berührte ihn an der Schulter und begrüßte ihn mit einem Händeschütteln. Er lächelte ihn an und Takeru wusste, dass nur er gemeint war.
Als Eimi ihm und seiner Schwester die Stadt zeigte, redete er auch mit Takeru und versuchte ihn kennenzulernen. Das war das erste Mal, dass er so positiv von einem Freund ihrer Schwester eingebunden wurde. Was bedeutete das?
Überraschend war zudem, dass Eimi sie auf ihrer Suche begleiten wollte. Was hatte Alayna ihm erzählt? Irgendwie wollte Takeru nicht, dass andere von dem Verschwinden ihres Vaters erfuhren. Aber dafür war es jetzt wohl zu spät.
Wo sein Vater denn nur war? Plötzlich schweiften Takerus Gedanken ab, er hörte nicht mehr, was ihm die Zwei sagten. Er nickte immer wieder, um nicht ganz so abgelenkt zu wirken.
Er hoffte, er könne seinen Vater so schnell wie nur möglich wiedersehen. Es war schrecklich, so weit von Zuhause weg zu sein und das allein mit Alayna, obwohl er nun auch Kioku und Eimi hatte.
Andererseits reizte es ihn, weiterzugehen und mehr zu erleben. Das, was sie bisher durchstehen mussten, war schon richtig aufregend. Deswegen fragte er sich, wie es wohl weitergehen würde. Gäbe es immer mehr neue Kämpfe und Bösewichte? Was war hinter dieser Stadt und hinter der nächsten? Takeru hatte noch nie so eine gute Möglichkeit geschenkt bekommen, diese Welt kennenzulernen und neue Horizonte zu entdecken.

Kioku war genervt. Als ihr auffiel, dass sie sich verlaufen hatte, war es schon zu spät, den Weg zurück zu finden. Und auf einmal beschlich Kioku ein komisches Gefühl. Es war so, als würde sie von allen Seiten beobachtet werden, ein eiskalter Blick, der von überall kam. Nervös drehte sie sich mehrmals um, doch entdecken konnte sie nichts. Ein Schatten zog an ihrer linken Seite vorbei. Als sie sich dorthin drehte, kam er von rechts. Was war das nur?
„Hallo…?“, sagte sie vorsichtig in den Hof hinein, in dem sie sich befand.
Die umliegenden Häuser waren so groß, dass die Sonne nur schlecht zwischen den Fassaden in den Hof schien. Der Schatten war kalt.
„Wer ist da? Ich weiß, dass du da bist, komm raus!“, forderte Kioku und drehte sich immer häufiger und hastiger um.
Sie schrie, als plötzlich eine alte Frau vor ihrer Nase stand und sie von unten anstarrte.
Ihr struppiges Haar war rosafarben, ungewöhnlich für so eine alte Frau. Ihre Falten zogen wirre Linien über ihr Gesicht. Die Augen, mit denen Kioku betrachtet wurde, waren groß und eigenartig. Man erkannte Ringe in der Iris der Frau. Sie war klein und stämmig, was noch durch ihre Klamotten verstärkt wurde. Sie trug ein weites Oberteil, aus dunklem, schweren Stoff, aus dem auch die Hose gefertigt worden war. Ihre zotteligen Haare wurden durch ein ebenso dunkles Haarband zurückgehalten.
„Entschuldige“, krächzte die Frau und räusperte sich. „Es ist nicht höflich, andere Leute so zu überraschen, aber, das ist nun einmal passiert.“
Sie kicherte.
Kioku verstand nicht, was da gerade vor sich ging. Langsam ging sie einen Schritt zurück. Die alte Dame war ihr nicht geheuer.
„Wie es mir scheint, suchst du den richtigen Weg…“, murmelte die Frau und musterte Kioku von oben bis unten. Dabei blieb die Frau mit dem Blick an Kiokus Narbe hängen. Das war das, was Kioku immer hasste, wenn die Leute so offensichtlich ihre Narbe anstarrten. Für sie war es schlimm genug, dass ihre Stirn so entstellt war und ringsum ihre Haare ausgefallen waren. Deswegen sah es so aus, als hätte sie an ihrer Schläfe eine große, leere Lücke, die eigentlich nicht leer war, denn da war die Narbe. Unbewusst langte sich Kioku selbst an die Narbe und fuhr einmal mit ihren Zeigefingern drüber, während sie nachdachte.
„Ich würde wieder gern zurück auf die Hauptstraße“, kam sie auch endlich zu Wort.
„Aber der richtige Weg ist dort“, widersprach ihr die alte Frau und zeigte mit ihren knochigen, faltigen Fingern in eine Richtung.
Aber Kioku hatte doch gar nicht behauptet, dass sie den Weg wüsste. Warum brachte die Frau nun so eine komische Aussage? War sie einfach zu alt?
„Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wo die Hauptstraße liegt?“, hakte Kioku unsicher nach.
„Das spielt für dich keine Rolle“, entgegnete die Frau, „Du musst diesen Weg gehen. Vertraue mir. Es wird sich lohnen…“
Die alte Frau neigte ihren Kopf, dabei wirkte ihr eines Auge nun viel größer als das andere. Ihr Blick war angsteinflößend.
Kioku hatte genug. Mit einem kurzen „Danke“ verabschiedete sie sich von der Dame und ging. Ein richtig unangenehmes Gefühl kroch ihr den Rücken hinunter. Wenn sie nicht diesen Weg gehen würde, dann würde ihr die Frau bestimmt hinterherlaufen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als den vorgeschlagenen Weg zu nehmen. Doch war das eine gute Idee? Kioku wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Der Weg führte Kioku durch verschachtelte, enge und zugemüllte Gassen. Sie versuchte die Sonne zu sehen, um zu bestimmen, in welche Richtung sie überhaupt ging. Jedoch konnte sie diese nicht sehen. Es gab keinen Weg, der sie wieder zurück auf die Straße hätte führen können. Die Gebäude hatten an den Seiten auch wenig Fenster, weswegen sie niemanden so leicht hätte fragen können. Sie stolperte und stieß sich den linken Fuß an einem Stahlrohr an. Sie verzog ihr Gesicht und stammelte immer wieder „Autsch“ vor sich hin, während sie in einer kurzen Pause ihren großen Zeh rieb. Dann ging sie weiter. Es war eiskalt.
Irgendwann kam sie dann an einem weiteren Hinterhof an. Ein kleiner Wandvorsprung war vor einem etwas größeren Platz. Jedoch war der Eingang zu diesem Platz zugestellt. Kioku konnte nicht durch die Gittertür hindurch gehen.
Plötzlich hörte sie Schritte und eine Tür schlug zu. Auf dem Mauervorsprung war ein Gitterzaun angebracht. Sie duckte sich aus Reflex und lauschte dem Gespräch von drei Männern.
„Die Kinder sind nicht unser Zielobjekt!“, schimpfte der eine Mann.
„Das weiß ich doch ebenfalls. Jedoch bin ich der Überzeugung, dass sie den Schlüssel haben“, erklärte ein Anderer.
Kioku hielt die Luft an. Was meinten sie mit Kindern? Doch nicht etwa Alayna und Takeru? Sie drückte ihren Körper fest an die Mauer und spitzelte etwas durch das Gitter hindurch. Vor einer Tür standen drei Männer. Ein junger Mann mit grauen Haaren und einem blauen Anzug stand neben jemand im schwarzen Trenchcoat, dessen wuschelige schwarze Haare sein Gesicht verbargen. Der letzte Mann trug einen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht verdeckte.
„Du redest ständig von einem Schlüssel!“, fing der im Trenchcoat wieder zu schimpfen an und hob dabei bedrohlich seine Arme. „Dabei hast du dich noch nicht einmal versichern können, ob dieser wirklich funktioniert, wenn es diesen überhaupt gibt. Das bringt uns nicht weiter, Ryoma. Die Mission geht vor, das weißt du.“
„Ist mir klar“, murmelte Ryoma.
Nun kam der Mann im Anzug ebenfalls zu Wort.
„Ich habe euer Anliegen auf jeden Fall einmal weitergeleitet. Es ist aber nicht garantiert, dass ich schnell auch Ergebnisse bekomme“, erklärte dieser. „Gerüchte verbreiten sich in dieser Stadt schnell, aber man gelangt nur schwer an Informationen.“
„Dabei müssten Sie das doch am besten können, Bürgermeister Takeno.“
„Dennoch liegt es nicht in meiner Hand. Wenn ich doch nur eigenhändig etwas tun könnte, dann würde ich mich bei eurem Anliegen auch wohler fühlen.“
„Solange es deinen Bürgern gut geht, machst du alles richtig, Jôô“, beschwichtigte ihn Ryoma.
„Dann machen wir uns wieder auf den Weg“, sagte der Mann im Trenchcoat kühl. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
„Ist wohl besser so, Niku“, bestätigte Ryoma. „Wenn es etwas Neues gibt, lass es uns hören, ja?“
„Geht klar. Danke, dass ihr da wart und mir Bescheid gegeben habt“, bedankte sich Jôô und hielt den anderen beiden die Tür auf.
Niku ging als erster hinein. Ryoma hielt noch einen Augenblick inne und sah sich um.
„Hier ist irgendetwas“, murmelte er.
Kioku fühlte sich angesprochen. Schnell duckte sie sich wieder und hielt mit ihrer Hand ihren Mund zu. Sie musste ganz leise atmen, damit sie nicht bemerkt werden würde.
„Wahrscheinlich nur der Wind“, lachte Jôô und bat Ryoma hinein. Dann schloss er die Tür hinter sich.
Kioku lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wer waren diese Personen? Was für eine Mission war das? Über welche Kinder hatten sie gesprochen? Es dauerte etwas, bis Kioku sich traute aufzustehen und den Weg zurück zu gehen.
Die Leute waren ziemlich suspekt. Waren sie böse? Kioku konnte es momentan noch nicht beurteilen. Sie sahen so aus, als hätten sie mit den Männern in Schwarz zu tun. Selbst der Bürgermeister der Stadt war darin wohl involviert.
Als Kioku zurücklief, spürte sie wieder eine merkwürdige Präsenz im Rücken. Sie drehte sich schnell um, dabei bildete sie sich einen Schatten ein. Sie erhöhte ihr Schritttempo. Wurde sie gerade verfolgt? Sie hörte nur sich selbst. Was auch immer das gerade war, sie wollte nur so schnell wie möglich zu den Kindern zurück. Bald erreichte sie wieder die Hauptstraße. Der Schatten war weg. Sicher fühlte sie sich dennoch nicht.


Kapitel 12 – Einige Vorbereitungen

 Es waren nun zwei Tage vergangen als Alayna den Jungen Eimi vorstellte, der fortan als weitere Begleitung die Suche nach ihrem Vater antrat. Takeru hatte sich ziemlich schnell daran gewöhnt, dass eine weitere Person mit auf die Reise kommen würde. Bisher hatte er auch das Gefühl, dass Kioku eine ziemlich große Bereicherung für die Suche war. Obwohl sie schon erwachsen war, hatte sie dennoch einen ziemlich netten und coolen Charakter. Außerdem konnte Kioku ihn manchmal öfter zum Lachen bringen, als seine Schwester. Alayna hatte in den letzten Tagen eigentlich nur Augen für Eimi gehabt, weswegen sich Takeru etwas allein fühlte. Aber durch irgendein komisches Gefühl konnte Takeru nicht sauer auf seine Schwester sein, so wie er es sonst immer war, wenn ein anderer Junge bei ihr war. Eimi strahlte etwas aus, was Takeru das Gefühl gab, ihm unbedingt nacheifern zu wollen.
Immer wenn Eimi mit ihm redete, sah er Takeru tief in die Augen und hörte ihm auch wirklich bei jedem Wort zu. Alayna war manchmal so sehr genervt, dass sie einfach nur wiederholte Male ein „hm“ von sich gab und ihm gar nicht zuhörte. Eimi jedoch schien keins seiner Worte verpassen zu wollen. Deswegen wurde Takerus Vorschlag, doch noch einige Utensilien für die Reise zu besorgen, sofort von Eimi und Kioku befürwortet. Alayna hatte als einzige ein Widerspruch einzulegen, woher sollte denn das Geld dafür kommen? Eimi konnte als erster etwas für die Reise aus seinem Ersparten beisteuern. Alayna und Tak, die aber weder Geld noch ihre Spardosen von Zuhause mitgebracht hatten, sowie Kioku, die nur noch wenig Geld übrig hatte, mussten also die letzten Tage für etwas Geld arbeiten. Eimi unterstützte die Freunde so gut er konnte und suchte sich für ihren kurzen Aufenthalt auch noch einen Job.
Das Geld wurde zusammengelegt und gezählt und in vier gleichgroße Haufen aufgeteilt.
Jeder sollte sich selbst die wichtigsten Dinge besorgen, die er für die Reise brauchte, nachdem sich jeder aber eine Art Grundausrüstung zugelegt hatte. Takeru hatte als Kind viele spannende Abenteuergeschichten gelesen und wusste, dass ein richtiger Abenteurer auch eine spezielle Ausrüstung brauchte. Zuerst sollte sich jeder ein gutes Taschenmesser zulegen. Nachdem Alayna schon einmal gefesselt worden war, fand Takeru es erst recht wichtig, ein Messer zu besitzen, da es auch für zahlreiche andere Situationen enorm praktisch sein würde. Als nächstes hatte Takeru eine kleine Taschenlampe vorgeschlagen, die man gut gebrauchen konnte, falls man mal wieder durch einen finsteren Wald lief und kaum mehr die Hand vor Augen sah.. Als nächstes stand ein Rucksack auf der Liste. Irgendwie musste man doch die ganzen Sachen, das Essen sowie Kleidung verstauen können.
Was als nächstes auf der Liste stand, überraschte jeden. Takeru dachte auch an eine Grundausstattung aus Medikamenten, Verbandsmaterial und Desinfektionsspray. Er wusste, dass man sich auch auf schlimme Arten und Weisen verletzten konnte und da wäre so ein Notfallpack unentbehrlich. Jetzt waren die Freunde daran, sich ihre eigenen Sachen zu besorgen.

„Es ist schön, dass die Mädchen miteinander einkaufen gehen“, fing Eimi an, als er gemeinsam mit Tak die Straßen der Stadt nach guten Geschäften abklapperte. „So sind wir in der Lage, einmal ein Gespräch unter Männern zu führen.“
Takeru war plötzlich ganz aufgeregt. Er freute sich unglaublich, dass sich Eimi einmal Zeit für ihn genommen hatte.
„Ich habe das Gefühl“, erzählte Eimi weiter, „dass uns da ein ziemlich großes Abenteuer bevorsteht. Bist du da nicht aufgeregt?“
„Doch total!“, antwortete Takeru und sah Eimi mit großen Augen an. „Aber ich habe auch Angst.“
Takeru schlenderte etwas langsamer und blickte grübelnd auf den Boden.
„Warum denn? Ich weiß, da draußen gibt es gefährliche Leute, die etwas Böses wollen, aber wir Vier werden das doch schaffen, oder?“, entgegnete Eimi und legte seine Hand auf Takerus Schulter.
„Und was, wenn wir meinen Vater nie finden werden? Unsere Mutter wird sich schreckliche Sorgen machen!“
„Ich schätze, die Sorgen hat sie so oder so schon, wenn ihre Kinder nicht Zuhause sind“, sprach Eimi und versuchte dabei etwas zu lächeln, um diesem Satz etwas die Traurigkeit zu nehmen.
Takeru drehte sich zu Eimi und sah ihm tief in die Augen. Dabei ballte er unbemerkt seine rechte Hand zu einer Faust. Er spürte Mut.
„Meine Mam schafft das!“, kündigte Takeru entschlossen an, „Und sie wird sich richtig freuen, wenn wir mit unserem Papa wieder nach Hause kommen! Dann ist alles wieder in Ordnung.“
Takerus Entschlossenheit überraschte Eimi. Er hätte niemals gedacht, dass der kleine Junge so mutig seiner Situation entgegenstehen würde. Eimi sah das Feuer in Takerus Augen und fühlte, dass er keine leeren Worte sprach. Egal was es kosten würde, sie würden ihren Vater finden und glücklich nach Hause kommen.
Auf der anderen Seite der Stadt waren Kioku und Alayna dabei, ihre Besorgungen zu tätigen. Während sich Alayna gerade eine Jacke ansah, musste Kioku sie unbedingt auf die Ereignisse der vergangenen Tage ansprechen.
„Alayna ich will ehrlich zu dir sein“, sprach Kioku sie direkt an, „Mir geht dieser eine Abend nicht aus dem Kopf, an dem du mit Eimi einfach verschwunden bist.“
Alayna zog fragend ihre Augenbrauen nach oben. Sie wusste nicht, was Kioku von ihr wollte.
„Es hat mich richtig wütend gemacht, dass du einfach verschwunden bist, ohne etwas zu sagen. Das geht einfach nicht! Es hätte was weiß ich denn alles passieren können und du kannst mich und vor allem nicht deinen Bruder so allein lassen, egal für welchen Jungen!“
Kioku bemerkte, dass sie immer lauter wurde, dann hielt sie kurz inne. Alayna konnte aus Schock erst gar nichts sagen.
„Versteh mich nicht falsch“, erklärte Kioku, als sie sich wieder etwas beruhigte, „Ich bin nicht deine Mutter und werde diese Stelle auch nicht ersetzen. Aber wir müssen zusammenarbeiten, damit diese Sache hier funktioniert.“
„Entschuldige“, sagte Alayna knapp.
Kioku dachte fast, Alayna wäre dieses Gespräch komplett egal, doch nach einer kurzen Pause fand Alayna die richtigen Worte, um sich zu erklären.
„Ich weiß, dass es falsch war, was ich an diesem Abend gemacht habe. Ich selbst hab doch keine Ahnung, was in mich gefahren war. Aber ich brauchte diese Nacht einfach. Ich wollte einmal wieder für mich sein und einen klaren Kopf bekommen. In den letzten Tagen war so viel passiert, ich konnte nicht wirklich runterfahren. Eimi hat mir geholfen mich wieder zu fassen.“
Alayna ließ die Jacke, die sie gerade noch in der Hand hielt, auf den Boden fallen. Es folgte ein leises Schluchzen, sie senkte ihren Kopf und fing an zu weinen. Kioku ging einen Schritt auf sie zu und umarmte Alayna.
„Ist schon gut“, sagte sie tröstend.
„Eimi hat mit mir die ganze Nacht nur geredet. Er hat mir von sich erzählt, woher er kommt, was er macht, wer er ist. Und das Einzige, was ich ihm entgegenbringen konnte war, dass das Verschwinden meines Vaters meine Welt einfach komplett über den Haufen geworfen hatte und ich seitdem nichts anderes im Kopf hatte als Laufen und Suchen, Laufen und Suchen …“
Kioku streichelte Alayna sanft über den Kopf.
„Es tut mir wirklich leid, Kioku! Ich wollte keinem von euch irgendwelche Sorgen bereiten. Ich konnte an diesem Abend einfach nur nicht anders …“
„Ist alles wieder in Ordnung“, lachte Kioku und gab ihr ein Taschentuch. „Eimi ist auch ein toller Typ. Ich freue mich, dass er uns auf der Reise begleiten wird.“
Alayna nickte und lächelte.
„Gemeinsam kriegen wir das schon hin! Aber Alayna, du musst mir versprechen, dein Verschwinden das nächste Mal anzukündigen. Ich will diese Sorgen nicht wieder durchleben müssen.“
„Geht klar.“

Das war es, was Takeru wollte. Er stand in einem schäbigen Laden, in dem nur altes, unbrauchbares Zeug verkauft wurde. Aber auf einem Tisch, in der hinteren Ecke des Ladens, auf dem einiges an Zeug aufgebaut war, blitzte etwas Glänzendes unter dem Zeug hervor. Takeru griff nach einer feinen, goldenen Kette und zog daran. Er musste vorsichtig sein, einige Dinge rutschten durch den Ruck nach unten und wären fast vom Tisch gefallen. Takeru machte langsam. Irgendwann blieb die Kette stecken. Es mussten also erst die Sachen von oben auf die Seite geschoben werden, sodass er wieder an der Kette ziehen konnte. Mit einem Ruck kam zwischen einer alten Porzellanpuppe und einer alten, verstaubten Uhr aus Holz ein rundes Objekt aus Messing hervor. Die Oberfläche war mit einem feinen Muster aus Linien überzogen, ein altertümliches Ornament wie man es vielleicht vor Jahrhunderten benutzt hatte. Auf der rechten Seite befand sich ein kleiner, unscheinbarer Knopf, in dem ein Stern graviert war. Mit einem schwachen Klicken öffnete sich der Deckel und ein Kompass kam zum Vorschein.
Im Inneren war der Kompass noch viel schöner, als Takeru angenommen hatte. Ein nachtblauer Boden aus dem feinsten Emaille ließ den reichlich verschnörkelten Zeiger noch schöner aussehen.
„So einen wollte ich schon immer haben“, murmelte Takeru wie hypnotisiert vor sich hin.
„Dann nimm ihn doch“, antwortete Eimi, der hinter ihm stand und einen Blick über Takerus Schulter warf. „Funktioniert der auch? Ich sehe nicht, wo Norden ist.“
Takeru war noch gar nicht aufgefallen, dass sich auf dem Kompass keine Buchstaben befanden, die die Richtung anzeigten. Die Nadel wackelte nur etwas unruhig hin und her.
„Das ist ein besonderer Kompass“, erklärte ein alter Mann, der gerade hinter der Theke hervortrat. Er trug einen dunkelroten Turban. Sein weißer Bart war zottelig und strohig. Seine langen, dürren und faltigen Finger nahmen Takeru den Kompass aus der Hand.
„Man sagt, er sei ein besonderer Kompass, der nicht am Tage funktioniere. Allein die Macht des Mondes würde das Geheimnis dieses Kompasses verraten. Einige Leute erzählen sich, dass dieser Kompass einen dort hinführe, wo man am liebsten wäre. Jedoch hat noch keiner es geschafft, wirklich etwas mit diesem Kompass zu sehen.“
„Dann ist er doch gar nichts wert“, meinte Eimi kühl und verzog dabei eine Augenbraue.
„Wertvoll ist er für die Leute, die seinen wahren Wert sehen wollen“, erklärte der alte Mann auf geheimnisvolle Art.
Takeru war hellauf begeistert. Was, wenn es wirklich ein magisches Artefakt wäre und bei ihm auch funktionierte?
„Das ist doch nur ein Verkaufstrick“, flüsterte Eimi ihm mit vorgehaltener Hand ins Ohr.
„Auch wenn“, kündigte Takeru an, „Ich muss ihn haben!“
„So eine Begeisterung habe ich lange nicht mehr gesehen“, sprach der alte Mann und ging wieder zu seinem Tresen, „Ich schenke dir den Kompass. Er liegt bei mir schon so lange herum, keiner wollte ihn haben.“
„Oh, vielen vielen Dank! Das ist echt spitze!“, freute sich Takeru und hängte sich den Kompass gleich um den Hals. „Jetzt müssen wir nur noch etwas für dich finden, Eimi.“
Takeru düste durch den Laden und durchwühlte jeden Tisch, den er finden konnte.
„Also Tak, ich weiß ja nicht, ob…“
Doch bevor Eimi seinen Satz beenden konnte, stand Takeru wieder vor ihm und hielt ihm ein Schwert unter die Nase.
„Es ist ein Schwert!“
„Ja, das sehe ich“, erkannte Eimi und wunderte sich über Takerus Eifer. Er nahm das Schwert in die Hand und wollte es aus der Scheide ziehen. Doch es ging einfach nicht heraus.
Plötzlich stand der alte Mann wieder neben Eimi, von einer auf die andere Sekunde. Wie machte das der alte Mann so schnell?
„Es ist ein sehr altes Schwert“, fing der Mann an zu erzählen.
„Oh, nicht wieder so eine Geschichte“, murmelte Eimi.
„Es hat einst einem sehr starken Krieger gehört, der einhundert Kriege damit gewonnen hat. Es ist unzerstörbar. Doch nach ihm hat keiner es geschafft, das Schwert wieder aus der Scheide zu ziehen. Man sagt sich, nur wer den wahren Kriegergeist in sich trägt, würde es wieder schaffen, das Schwert zu befreien.“
„Aber was nützt mir ein Schwert, wenn ich es nicht aus der Scheide ziehen kann?“, wunderte sich Eimi und sah Takeru ernsthaft fragend an.
„Naja… ehm… also…“, grübelte Takeru.
„Du kannst zumindest mit der Scheide jemandem über die Rübe hauen“, lachte der alte Mann, gab ihm das Schwert und ging wieder hinter den Tresen.
„Siehst du!“, versuchte ihn Takeru zu überzeugen, „Es nützt also doch etwas. Und vielleicht schaffst du es ja wirklich, das Schwert herauszuziehen!“
„Aber das ist doch nur ein Verkaufstrick, um es besonders wirken zu lassen“, tuschelte Eimi und sah sich das Schwert an.
Es war sehr leicht. Die Scheide war aus einem festen, grauen Leder und hatte beschlagenes goldenes Metall darauf, in Form von den Ästen und Zweigen eines Baumes. Der Griff war perfekt geformt, es lag geschmeidig in seiner Rechten.
„Du musst es einfach nehmen! Es passt perfekt zu dir Eimi!“, grinste ihn sein junger Freund bis über beide Ohren an.
„Okay okay… ich nehme es ja schon“, gab Eimi nach. Dann bezahlte er das Schwert und beide verließen den Laden.

Kioku hantierte glücklich pfeifend mit ihrem neuen Gegenstand umher. In einem Laden hat sie ein Band aus besonderem Stoff gefunden. Es war eine Armspanne lang und samtig. Wenn Kioku es aber mit einem starken Ruck bewegte, versteifte sich der Stoff und wurde hart wie Stahl. So konnte es hart und weich zugleich sein. Kioku fand das sehr praktisch und wollte es unbedingt haben. Immer wieder ließ sie den Stoff erhärten und dann wieder weich werden.
Sie und Alayna kamen an dem nächsten Laden an. Es war ein Geschäft für Kampfkunstausrüstung. In den Regalen lagen viele Waffen, an den Stangen hingen die verschiedensten Kleidungsstücke für Männer und Frauen.
Es dauerte nicht lange, da ging Alayna an einen Tisch für Accessoires. Sie wühlte sich durch Stirnbänder, Schnürsenkel, Handtaschen, Socken, Ketten und noch mehr Zeugs. Auf dem Boden des Tisches fand sie zwei Paar Handschuhe. Das eine war grün und bestand aus einem feinen, samtigen Stoff. Das andere Paar war aus weißem Leder gefertig, hatte nur halbe Finger, besaß jedoch aber schmale silberne Metallplatten für den Handrücken und die Knöchel. Alayna hielt beide fragend in ihren Händen.
„Du kannst das doch nicht wirklich abwägen, oder?“, meinte Kioku. „Die Grünen sind ja grässlich!“
„Aber sie sind aus einem tollen Stoff“, entgegnete Alayna.
„Stoff hin oder her, papperlapapp! Denk doch dran, was uns bevorsteht, nimm die Weißen, mit denen kannst du wenigstens zuhauen.“
Alayna sah ein, dass Kioku da schon Recht hatte, aber irgendwie war sie sich noch nicht sicher. Handschuhe wären schon etwas Praktisches gewesen für die Reise. Aber wollte sie wirklich gezielt Leute damit verprügeln?
Kioku nahm ihr das weiße Paar ab und betrachtete sie genau. Abwechselnd sah sie die Handschuhe und dann Alayna an.
„Außerdem stehen dir diese Handschuhe viel besser. Das weiße Leder und das Silber passen doch ausgezeichnet und harmonieren gut mit deinen weißen Haaren“, argumentierte Kioku.
„Meinst du echt?“ Alayna war sich nicht sicher, fuhr sich mit ihrer Hand einmal durch die Frisur. Das grüne Paar wäre wirklich unpraktisch gewesen.
„Gut, ich nehme die Weißen!“
So hatte auch Alayna etwas für sich gefunden. Die wichtigsten Besorgungen waren für die Reise nun gemacht. Als die Vier sich abends wieder trafen, zeigten sie sich gegenseitig die neuen Errungenschaften. Außerdem setzten sie sich noch einmal zusammen um einen Plan zu erstellen, wie sie als nächstes vorgehen würden. Takeru war der Überzeugung, dass es sinnvoll wäre weiter nach Nordwesten zu gehen, weil sich ihr Vater am Anfang ebenfalls in diese Richtung bewegt hatte. Die Anderen stimmten zu, denn ohne weitere Anhaltspunkte konnten sie nicht viel machen.
Am nächsten Tag sollte die Reise vorgesetzt werden.

 


Kapitel 13 – Wie ein harter Schlag

 Der Tag war grau. Dicke und schwere dunkle Wolken bedeckten tiefhängend den Himmel. Der Wind war stark. Er riss einige lose Blätter und Zweige von den Bäumen und wehte sie zwischen den Stämmen mal nach links, mal nach rechts hindurch. Sie hatten alle kein Ziel.
Takeru hatte aber ein Ziel. Er musste seinen Vater finden, koste es, was es wollte. Unruhig spielte er mit dem Kompass in seiner Hand und führte die Gruppe nur halbherzig aus dem Wald, den sie bald hinter sich lassen sollten. Seit gestern waren sie unterwegs, hatten Hakata nach Nord-Westen verlassen, kamen aber nur langsam voran. Erst hinderte sie starker Regen am Vorankommen. Glücklicherweise ließ dieser am Abend nach, sodass sie sich einen Schlafplatz im Wald suchen konnten. Durch den Regen aber fanden sie kein Feuerholz, sie hatten eine kurze und kalte Nacht.
Dementsprechend war auch die Stimmung der Freunde. Alayna konnte man gar nicht ansprechen, weil sie sich sonst über alles und jeden sofort aufregen würde. Eimi dachte viel darüber nach, wie der Start seiner Reise begonnen hatte und was er denn nun alles hinter sich ließ.
Kioku war die einzige, die sich etwas über den Regen gefreut hatte. Sie freute sich auch, dass sie bald das Meer sehen würde. Sie war auch froh darüber, diese große Stadt hinter sich gelassen zu haben.

Ein kalter Windhauch streifte über die Wiesen der Klippen, als die Freunde den Wald verließen. Es erstreckten sich weite Felder vor ihren Augen. Wie ein Silberstreifen zog der Wind über das Gras, nahm hier und dort ein paar Halme mit auf und verschwand in der grauen Ferne der Landschaft.
Es rauschte ziemlich laut. Die Wellen, die sich gegenseitig an Höhe und Stärke übertreffen wollten, schlugen mit aller Kraft gegen den harten, blassen Fels der Küste. Es wurde kälter. Ein starker Duft nach Salz und See stieg empor.
Alayna rannte auf die Wiese, drehte sich einige Male um sich selbst.
„Ich will wieder die Sonne sehen!“, brüllte sie mit aller Kraft und machte ihren Ärger Luft, indem sie sich auf die Wiese fallen ließ. Es war kalt, das Gras war feucht, aber das alles störte sie nicht mehr.
„Aber das Meer! Wir sind am Meer Alayna!“, rief Takeru, legte seine Sachen auf den Boden und sprang ihr hinterher.
„Es ist so groß! Seht euch die Wellen an!“, rief er, während er den Anderen winkte.
„Ist wirklich unglaublich“, gab Eimi kühl von sich und fuhr sich einmal durch die Haare.
Über dem Meer krachten gerade graue Wolken ineinander und wurden schwarz. Ein starker Windstoß blies gegen das Land. In der Ferne hörte man Donnergrollen.
Und als hätte es ihr gegolten, verdrehten sich Kiokus Augen, sodass man das Weiße von weiten hervorblitzen sah, ihr Mund öffnete sich und wie in Zeitlupe fiel sie zu Boden. Als ihr Körper auf den feuchten Untergrund aufkam, erschütterte ein weiterer Donner, der viel lauter war als der erste, die Umgebung in der Ferne.

Alayna, Takeru und Eimi kamen zu Kioku geeilt. Als Eimi ihre Schulter berührte und versuchte, sie zu wecken, reagierte sie nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Voller Panik versuchte Takeru seine Schwester dazu zu bringen, etwas zu unternehmen, doch auch Alayna wusste keinen Rat. Eimi überprüfte den Atem von Kioku und stellte zur Erleichterung fest, dass sie ruhig atmete.
Takeru schlug vor, sie an einen besseren Ort zu bringen und sprintete los, um für Kioku einen geeigneten Platz zu finden, an dem sie sicher liegen konnte. Nicht weit entfernt gab es einen leichten Abhang, der zum Strand führte. Unter einem der Felsen gab es eine Möglichkeit sich unterzustellen. Mit aller Kraft packten Alayna und Eimi zusammen Kioku und trugen sie an die geeignete Stelle, an der Takeru ein kleines Lager aufbaute.
Jetzt konnten sie nur warten, dass Kioku wieder aufwachte, während sie sich überlegten, was sie als nächsten tun sollten.
Es drückte. Es drückte an ihrem Bein, in der anderen Sekunde auf ihre Brust, die Ohren waren zu, es war einfach zu viel Druck. Der Schmerz kam pulsierend. Wie starke, stählerne Wellen drückte es immer wieder auf ihren Körper, immer wieder waren es andere Stellen. Wenn sie versuchte, sich zu befreien, weigerten sich ihre Knochen sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. So musste sie sich treiben lassen.
Alles hing über ihr wie ein Schleier aus Blei. Undurchsichtig und schwer. Der Atem blieb weg. Der Versuch, die Augen zu öffnen, kostete unheimlich viel Kraft und als sie diese öffnete, sah sie Regen. Viel zu viel Regen, als die Welt jemals hätte aufsaugen können. Vor ihr schob sich eine Silhouette hin und her. Es war eine Frau, doch Kioku konnte nicht erkennen, wer diese Frau war. Die Worte dieser Frau klangen wie tiefer, unverständlicher Bass einer Trommel, deren Klang ihr doch vertraut vorkam.
Sie fiel. Die Haare vor dem Gesicht, war der einzige Blick gen Himmel gerichtet, an dem die grauen Wolken vorbeizogen, als wäre es ihnen egal, dass sie fiel. Der Körper war taub vor Schmerz, der kalte Wind peitschte ihr um die Ohren und das, was sie danach empfand, war ein Schmerz, den man nicht beschreiben konnte.
Zugleich stand sie auf der Klippe und vernahm wieder Silhouetten. Diesmal waren es mehrere, undefinierte Schatten, die lauerten. Die Angst schnürte Kioku die Kehle zu. Atem gelangte nur unrhythmisch in ihre Lunge. Danach fühlte sie Hitze, die Haut kratzte.
Immer wieder vernahm sie ein Wort. „Blau“ wiederholte sich in ihrem Kopf, wie ein Lied ohne Ende.
Ihr Herz pochte und pochte immer schneller. Was war nur los? Es fühlte sich an, als würde sie einen kalten Gang entlang laufen. Wer war sie? Wer war sie denn nur? Sie wollte nur ihre Erinnerungen zurück.
Dann fand sie sich in einem Raum wieder. Überall standen Menschen ohne Gesichter, sie standen wie dunkle Schatten, die bedrohlich schwiegen. Keiner konnte ihr eine Antwort geben.


Der Regen wollte nicht aufhören. Es war schwierig, an ihrem Lager, unter dem feuchten Fels, ein Feuer zu entzünden. Kiokus Temperatur hatte abgenommen, weswegen Eimi und Alayna einige Kleidungsstücke auf sie legten, die sie wärmen sollten. Es war nun schon eine Stunde vergangen, seitdem Kioku in Ohnmacht gefallen war. Sie atmete und sie schien nur zu schlafen. Jedoch bewegten sich ihre Augen unter ihren Lidern schnell und oft. Träumte sie etwa?
Takeru spielte mit seinem Kompass herum. Konnte er einem wirklich zeigen, was man sehen wollte? Er fuhr vorsichtig mit seinem Finger über den Deckel, dann klappte er den Kompass auf.
„Zeig mir, wohin ich möchte“, flüsterte Takeru, ohne, dass es wer hörte und drückte den Kompass an sein Herz. Er hielt etwas inne, vielleicht würde das die Magie ja ausmachen. Etwas Geduld. Dann sah er sich den Zeiger an.
Bewegte er sich nicht gerade? Ein kurzes Zittern? Der Zeiger hatte seine Position nicht verändert. Takeru wurde müde. Doch er konnte noch nicht schlafen. Er wollte warten, bis Kioku wieder aufwachte. Um sich die Langeweile etwas interessanter zu gestalten, holte er das Tagebuch heraus und blätterte darin herum. Relativ weit hinten fand er einen neuen Eintrag: „Ama hat mir von seiner Geschichte erzählt. Es muss schwer sein, seine Familie auf einmal zu verlieren. Wo ist meine Familie?“
Was sollte das bedeuten? Wer war Ama, der gerade so oft erwähnt wurde?
Aufeinmal setzte sich Eimi neben ihn.
„Was hast du da für ein Buch?“, fragte er neugierig. Takeru erschreckte sich. Stimmt, er hatte Eimi noch gar nichts über das Tagebuch erzählt. Unsicher sah er zu Alayna hinüber, die bestätigend nickte. Dann blickte er wieder Eimi an und wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Er erzählte ihm über das Tagebuch und zeigte den beiden den neuen Eintrag.

Kioku stand auf einer gepflasterten Straße. Um sie herum liefen einige Menschen wild hin und her. In der Ferne konnte sie das Meer erblicken. Sie war in einer Stadt. Zunächst lief sie ziellos über die Straße, die Menschenmenge machte es nicht einfach voranzukommen. Dann stand sie auf einmal am Hafen. Vor ihr lag das Wasser, in dem viele Boote und kleine Schiffe schwammen. Auf einmal bewegte sie sich, ohne dass sie wollte. Sie wollte diese Szenerie noch länger genießen.
Ihr Weg führte sie vorbei an den kleinen Schiffen und führte sie zu relativ großen Booten. Dann ging sie auf einen Steg, an dessen Ende sich ein kleines Segelboot befand. Kioku stieg hinein.
Irgendwie wusste sie, dass es ihr eigenes Boot war. Wie von allein fuhr es los und ließ die Stadt hinter sich. Sie erkannte die Stadt.

Dann wachte sie aus ihrem Traum auf. Vor Schreck setzte sie sich plötzlich auf und erschreckte Alayna so sehr, dass sie einen Schrie von sich ließ. Takeru und Eimi kamen sogleich zu ihr und knieten sich zu ihr hin.
„Ich weiß etwas!“, rief Kioku aus und sah ihre Freunde begeistert an.
„Wie, was, was weißt du?“, stotterte Alayna, die erst noch mit dem Schock klarkommen musste.
„Wie geht es dir, ist alles in Ordnung?“, hakte Eimi nach.
„Du warst ziemlich lange ohnmächtig, wir haben uns Sorgen gemacht!“, meinte Takeru und sah sie mit großen Augen an.
„Was… ich war ohnmächtig? Ich… ich habe geträumt“, erklärte Kioku und stützte ihren Kopf auf ihre Arme. „Ich, ich habe ein Boot in einer Stadt, einer Hafenstadt!“
„Woher weißt du das?“, wunderte sich Alayna.
„Ich weiß es einfach. Ich hab es gesehen, im Traum. Es ist am Hafen. Wir müssen es holen!“
„Aber, weißt du auch, in welcher Stadt es ist?“, fragte Eimi.
„Es ist hier irgendwo in der Nähe. Wenn ich dort bin, weiß ich es!“
„Dann gehen wir doch dorthin, hier irgendwo wird es schon eine Hafenstadt geben, nicht? Dann kannst du dich vielleicht auch an mehr erinnern“, meinte Takeru und sah seine Freunde fragend an.
„Stimmt, es liegt eine Stadt hier ganz in der Nähe, wir müssen nur am Strand entlang“, erinnerte sich Eimi. „Ich war da einmal als kleiner Junge.“
„Dann ist die Sache entschieden?“, freute sich Takeru.
„Aber wir müssen doch auch schauen, dass mit Kioku alles in Ordnung ist“, wandte Alayna ein, „Fändet ihr es nicht besser, sie einmal zum Arzt zu schicken?“
„Wo du recht hast“, meinte Eimi und sah Kioku durchdringlich an, „Wir bringen dich erst zum Arzt und suchen dann dein Boot, einverstanden?“
„Einverstanden“, willigte Kioku ein. „Aber erst hab ich einen riesigen Kohldampf!“


Kapitel 14 – Wie Nichts

 Sachte schlug Takeru das Tagebuch auf. Etwa im dritten Viertel des Buches fand er einen Eintrag.

Nun fällt es mir erst richtig auf. Sayoko habe ich damals als ziemlich zurückhaltend und distanziert erlebt. Sie war nie jemand, die es darauf anlegte, mit jedem eine Freundschaft aufzubauen. Aber wenn ich sie jetzt sehe, wie sie sich um Tsuru, Jumon und auch Ginta kümmert, da wird mir warm in der Brust. Sie ist wie eine Mutter, die ihre Kinder liebt. Nur dass wir alle „Waisen“ sind, unser Ziel ist ein unbestimmter Weg. Was bedeutet es, eine Mutter zu haben?

Augenblicklich legte Takeru das Buch beiseite. Er musste an seine Mutter denken, wie sie ihn jeden Morgen weckte, wie sie ihn erwartete, wenn er von der Schule wiederkam, wie sie mit ihm lachte. Es war ein unangenehmes Gefühl in der Bauchgegend, als hätte man etwas Schlechtes gegessen, aber noch viel schlimmer. Gerade in diesem Moment war sie irgendwo auf der Welt und vielleicht verzweifelt. Ihr Zuhause war keines mehr, weil es in einem Flammenmeer untergegangen war. War ihre Mutter alleine? Machte sie sich schlimme Sorgen? Einige tausend Fragen schossen durch Takerus Kopf.
„Keine Sorge“, flüsterte Eimi zu ihm, „Kioku wird schon wieder. Da bin ich mir sicher.“
Eimi, Alayna und er saßen gerade in einem Wartezimmer. Sie hatten Kioku zu einem Arzt gebracht, der sie gerade untersuchte. Während der Untersuchung durften sie nicht dabei sein, also mussten sie hier ihre Zeit verbringen.
„Es ist nicht das“, antwortete Takeru, nachdem er seine Gedanken wieder geordnet hatte, „Es geht um wen Anderes.“
Alayna war dem Gespräch nicht gefolgt. Ihre Gedanken waren in diesem Moment woanders. Ein merkwürdiges Gefühl ließ sie wie hypnotisiert einen Blick auf das Tagebuch werfen und sie las die Wörter, die in dem offenliegenden Eintrag standen.
Eimi sah Takeru fragend an. Takeru stand auf und ging etwas umher. Er steckte die Hände in seine Hosentaschen und suchte nach Worten. Als er seine Hand herausholte, um sich am Kopf zu kratzen, fiel ihm ein kleiner Zettel aus der Tasche. Dieser Zettel war ihm vorher noch gar nicht aufgefallen, deswegen hob er ihn auf. Darauf stand:

Eurer Mutter geht es gut.
R.

„Denkst du manchmal an Mama?“, frage Alayna vorwurfsvoll mit zitternder Stimme, als sie Takeru den Zettel aus der Hand nahm. Sie sah abwechselnd auf den Zettel und auf Tak. Sie machte sich Vorwürfe.
„Natürlich denk ich an Mam! Die ganze Zeit!“, verteidigte sich ihr Bruder.
„Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass wir sie zurückgelassen haben. Tun wir hier überhaupt das Richtige? Wir haben ihr nicht einmal Bescheid gegeben!“, verzweifelte Alayna. Wie konnten sie nur überhaupt auf die Idee kommen, ihre Mutter allein zu lassen? Sie warf ihre Hände auf die Schultern ihres kleineren Bruders und drückte fest zu. „Wir müssen zu ihr zurück, verstehst du das!?“
Takeru verteidigte sich, in dem er sich von dem Griff löste und seine Schwester flehend an die Jacke griff.
„Wenn wir das hier nicht tun, finden wir Dad niemals! Meinst du Mam wird glücklich sein, wenn wir Dad verlieren? Ich will mit ihm zurückkommen! Es gibt doch keine anderen Möglichkeiten!“, brüllte er. Seine Augen waren rot, er konnte die Tränen nicht kontrollieren. Auch Alayna fing jetzt zu schluchzen an.
Sie wollte ihrem Bruder Recht geben, aber es fiel ihr so schwer. In letzter Zeit waren so viele Sachen vorgefallen, dass sie selbst kaum an ihre Mutter dachte und sie fühlte sich unheimlich schlecht deswegen. Jetzt auf einmal war ihr aufgefallen, dass ihre Mutter wirklich irgendwo war und das alleine. Als sie sich das genauer vorstellte, blieb ihr der Atem weg. Also schob Alayna diese Bilder wieder beiseite und sah ihrem Bruder direkt in die Augen. Heute war für sie kein guter Tag.
„Siehst du nicht“, fing Takeru an, als er sich etwas beruhigte, „Ryoma schreibt, dass es Mama gut geht. Wir müssen uns keine Sorgen machen.“
Nun stand Eimi auf, der diese Situation bisher nur beobachtet hatte.
„Beruhigt euch“, meinte er kühl, „Es hilft nichts, sich darüber jetzt zu streiten.“
„Aber wie, wie können wir…“, schluchzte Alayna erneut, „Wie können wir wissen, dass das hier stimmt!? Woher kommt dieser blöde Zettel überhaupt plötzlich?“
„Es scheint so, als hätte ihn mir Ryoma irgendwann zugesteckt“, analysierte Takeru, „Aber bisher habe ich ihn noch gar nicht bemerkt.“
„Wenn er denn überhaupt von Ryoma kommt“, entgegnete Alayna harsch. „Ich glaub nicht daran.“
„Aber das ist von ihm, bestimmt!“
„Ihr könnt nur nach einem eurer Elternteile zur Zeit suchen. Entweder nach eurem Vater, der ganz sicher verschwunden ist oder nach euer Mutter, der es laut diesem Zettel gut geht. Wollt ihr wirklich den ganzen Weg, den ihr bis jetzt zurückgelegt habt, wieder zurückgehen, nur um dann festzustellen, dass es eurer Mutter gut geht? Dann würdet ihr euch wieder auf die Suche nach eurem Vater begeben und wärt wieder ungewiss, ob es eurer Mutter gut geht.“, meinte Eimi und lächelte sanft.
Bevor die beiden Parteien noch etwas dagegen sagen konnten, ging die Tür auf und Kioku kam mit einem Arzt heraus.
„Kioku!“, rief Takeru und lief zu ihr, „Wie geht es dir jetzt?“
„Gut“, meinte Kioku verlegen und lächelte.
„Wie sieht es aus, Herr Doktor?“, fragte Eimi.
„Es sieht so aus, als wäre ihr Zustand stabil. Ich denke, es war nur ein kleiner Schwächeanfall. Ihr solltet dafür sorgen, dass ihr alle genug esst und trinkt. Der Mensch sollte am Tag zwei bis drei Liter Wasser zu sich nehmen“, erklärte der Arzt.
„Vielen Dank“, bedankte sich Eimi.
Der Arzt verabschiedete sich und ging. Um die Situation besser zu besprechen, setzten sich die Freunde nochmal ins Wartezimmer.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Alayna entkräftet. Sie hatte sich kaum beruhigt und musste sich zwingen, sich nun auf die weiteren Pläne zu konzentrieren. Eigentlich wollte sie es ja einsehen, dass sie ihren Vater zuerst finden sollten, da er sicherlich in größeren Schwierigkeiten steckte, als ihre Mutter. Aber dennoch war da einfach dieses zweifelnde und kritische Gefühl in ihr, welches ihr kein Vertrauen für diese Situation haben ließ. „R“ konnte doch auch wer anders sein, das musste nicht Ryoma sein. Welchen Grund hätte er denn gehabt, seinen Namen abzukürzen?
Kioku sah etwas geschwächt aus. Ihr Blick war aber ernst, als sie meinte: „Ich möchte dieses Boot finden, welches ich gesehen habe. Ich glaube es ist ein Hinweis darauf, wer ich bin.“
Takeru hatte bisher erst einmal Kioku so ernst dreinblicken sehen. Damals, als die Stadt überfallen wurde und Alayna entführt worden war. Er wusste, dass Kioku die Suche nach dem Boot wirklich wichtig war.
„Das ist eine gute Idee“, stimmte er ohne Einwände zu.
„Sollen wir uns in Gruppen aufteilen?“, schlug Eimi vor, „Dann können wir auf jeden Fall schneller mit der Suche vorankommen. Ich würde sagen, wir treffen uns dann bei Sonnenaufgang vor der Stadt wieder, dann sehen wir ja, ob jemand erfolgreich mit der Suche war?“
„In Ordnung!“, stieß es aus Kioku heraus, als sie sich plötzlich erhob. Sie ballte motiviert ihre Faust und ihr Ausdruck wirkte schon viel entspannter. „Dann beschreibe ich auch mal, wie das Boot aussieht…“

Takeru war der erste, der losging. Mit der Beschreibung des Bootes im Kopf schlenderte er durch die Straßen und kam schon bald an der westlichen Ecke der Stadt an. Die Stadt lag an einer nördlichen Landeszunge und war im Grunde genommen ein riesiger Hafen. Es gab in drei Himmelsrichtungen Häfen, an denen die unterschiedlichsten Schiffe, Kähne und Boote vor Anker gingen.
Bei der Suche war Takeru aber ziemlich unkonzentriert. Immer wieder musste er an Alayna denken, an seine Mutter und an den Tagebucheintrag. Es war schon wieder passiert, dass der Eintrag einfach so aufgetaucht war. Aber warum heute? Warum tauchte dieser Eintrag genau heute auf? Hatte es was damit zu tun, dass er wirklich an seine Mutter dachte? Oder doch eher, dass Ryoma diesen Zettel in seiner Tasche versteckt hatte?
Vernezye war eine riesige Stadt, in der viele Leute unterwegs waren und auch arbeiteten. Allein schon in der Nähe des Hafens war Takeru einer Vielzahl an Matrosen und Arbeitern begegnet, weswegen es ihn nicht schockierte, dass die Zahl der Männer sich hier fast verdreifacht hatte. Es ging geschäftig hin und her, Männer riefen nach ihren Kollegen, sie arbeiteten zusammen, schleppten Kisten, reparierten etwas an Deck der Schiffe, verluden Ware  oder sortierten Fisch für den Markt.
Er lief die etlichen Hütten ab, die genau gegenüber der kleinen Bootsstege standen. Hier gab es kleine Läden, die wohl für die Arbeiter gedacht waren. Neben Imbissbuden und kleinen Souvenirläden fand Takeru auch eine Wahrsagerin. Als er am Ende der Straße angekommen war, fing er an, die einzelnen Stege abzulaufen und nach Kiokus Boot zu suchen. Es dauerte einige Zeit, all die Stege abzusuchen, doch am Ende fand er nichts.

Alayna ging zusammen mit Eimi. Sie befürchtete, sich in ihrer Verfassung gnadenlos in dieser Stadt zu verlaufen. Aber das störte sie nicht, denn so konnte sie wieder einmal mit Eimi für einige Zeit lang allein sein.
„Weißt du, das mit dieser Nachricht“, fing Eimi aus dem Nichts an, während sie zum nördlichen Hafen schlenderten, „Ich glaube, diese Nachricht ist wirklich von Ryoma.“
„Wie kommst du darauf?“, hakte Alayna nach.
Eimi hatte Ryoma noch nicht kennengelernt, er kannte ihn nur von ihren Erzählungen. Und obwohl Eimi die ganze Geschichte kannte, wunderte sie sich, wieso er so ein Urteil fällen konnte.
„Es ist ein Bauchgefühl. Kennst du das, wenn du etwas weißt, bei dem die Überzeugung vom tiefsten deines Inneren kommt? So fühlt es sich an“, erklärte Eimi und blickte dabei in die Ferne. Seine Augen sahen so konzentriert und überzeugt aus, als er diese Worte sagte. Es faszinierte Alayna. Es faszinierte sie schon seit dem ersten Tag, an dem sie ihn getroffen hatte.
„Ich habe deine Mutter nie kennengelernt, aber wenn sie so ist wie du, Alayna, dann habe ich keine Zweifel, dass sie sich schon längst ihren Weg gesucht hat und es ihr gut geht!“, munterte Eimi sie auf.
Darauf konnte sie nichts antworten. Warum fühlte sie sich plötzlich so gut? Es war, als würde Eimi all sein Vertrauen und seinen Mut wie einen Mantel um sie legen, der sie auch bei dem stärksten Wind warm halten würde. Als könnte sie plötzlich nichts mehr verletzen. Dabei brauchte sie nur in seine Augen schauen und wusste, dass sie auch Vertrauen in sich selbst haben musste. Sie mussten zunächst ihren Vater finden.
„Schau mal!“, rief Eimi, nahm ihre Hand und rannte los.
Der plötzliche Ruck holte sie wieder in die Gegenwart und zusammen mit ihm lief sie einen kleinen Hügel hinunter, direkt auf den nördlichen Hafen hinzu.
„Schau mal, wie die Sonne im Meer glitzert! Das Meer ist so toll!“, rief Eimi und zog Alayna hinter sich her.
Erst nach einigen Sekunden merkte sie, dass sie seine Hand hielt. Sie merkte, wie eine eigenartige Wärme in ihr hochstieg und ihre Ohren plötzlich ganz heiß wurden. Was sie nicht sehen konnte, war, wie sie langsam errötete.
Es fühlte sich grandios an.

Kioku sah sich überall um. Irgendwo musste dieses Boot doch sein, sie wusste es! Es war der Schlüssel zu ihren Erinnerungen.
„Verdammt!“, brüllte sie so laut, dass sogar die muskelbepackten Matrosen um sie herum einen Schrecken bekamen.
Seit etwa drei Stunden suchte sie schon und fand keinen einzigen Anhaltspunkt. Sie fragte Leute, Seefahrer und einfach jeden, den sie traf. Doch nirgendwo fand sie auch nur eine kleine Spur ihres Bootes. Bald war Sonnenuntergang und sie hatte nichts gefunden. Erschöpft ging sie über den östlichen Hafen und ließ die untergehende Sonne in ihrem Rücken. In der Ferne des Horizonts schimmerte schon das Blau der Nacht. Ein Fußweg führte sie an den Anlegestellen vorbei zu einigen kleinen Treppen, die sie hinunter zum Strand führten.
Als sie den ersten Schritt auf den weichen, gelben Sand machte und das Rauschen des Meeres nun viel klarer und lauter wurde, stockte ihr der Atem.
Was war in den letzten Stunden mit ihr passiert? Von einen auf den anderen Moment wurde sie immer aggressiver und wütender. Wütend darauf, dieses Boot nicht zu finden und wütend auf sich selbst. Sie schluchzte einmal kurz, als sie merkte, wie schwer ihr Körper plötzlich war. Sie zog die Schuhe aus und ging barfuß über den Sand. Es war kalt, doch es fühlte sich angenehm an, mit den Fußsohlen ein Stück weit in den Sand einzutauchen. Sie ließ ihn einige Male zwischen ihren Zehen hindurchrieseln.
Kioku lief einige Schritte auf das Wasser hinzu, eine Welle spülte Wasser und Sand bis zu ihren Füßen. Es war schrecklich kalt.
Eigentlich war es doch gar nicht so schlimm, das Boot nicht zu finden. Was hatte sie sich davon eigentlich erhofft? Darin ein Blatt zu finden, auf dem stand, wer sie wirklich war?
Der Strand war gehüllt in den langen Schatten der Stadt, nur zwischen den höchsten Gebäuden konnte man gerade die rötliche Sonne sehen. Es wurde kälter.
Das Geräusch des Wassers änderte sich. In der Ferne nahm sie eine Silhouette war. Als sie näher kam, entdeckte sie ein gestrandetes Boot. Der Lack war wohl durch die Steine an der Küste abgewetzt. Dennoch war davon genug übrig, damit sie erkennen konnte, welches Boot es genau war.
Es schien, als wäre es wie aus dem Nichts aufgetaucht, als müsste es sich jetzt genau in diesem Moment vor ihr offenbaren und sich zeigen. Es war ihr Boot.
Sie rannte darauf zu und ließ sich kurz davor auf die Knie fallen. Das war es. Es war das Boot, das genau die Form und Farbe hatte, wie sie es in ihrer Erinnerung gesehen hatte. Sofort drehte sie es um, die Strömung des Wassers hatte es umgeworfen.
Doch darin befand sich nichts außer einigen Algen, die am Holz klebten.
„Was… bedeutet das?“, murmelte sie leise vor sich hin und ließ sich erschöpft nieder. Sie lehnte sich an das Boot und hängte ihren rechten Arm schlaff hinein, der ungeduldig an den Algen zupfte.
„Was zur Hölle heißt das nun? Warum kann ich mich nicht erinnern? Ich weiß, dass du mein Boot bist, doch warum bist du so ramponiert?“

„Kioku“, meinte Takeru, der plötzlich vor ihr stand. Er, seine Schwester und Eimi hatten sich getroffen und waren zum Strand gelaufen, nachdem sie ihre Suche aufgegeben hatten. Die Sonne war schon hinter der Stadt und bald auch hinter dem Horizont verschwunden.
„Das ist es, oder?“, hakte Alayna vorsichtig nach.
Kioku nickte nur, ohne ihre Freunde dabei anzuschauen. Ihr Blick blieb starr auf dem Boot haften.
„Steh auf“, schlug ihr Eimi vor und reichte ihr eine Hand. Sie nahm diese und er zog sie hoch.
„Wisst ihr…“, erklärte Kioku mit ruhiger Stimme, „Manchmal wünscht man sich im Leben etwas so stark, dass die Angst, dass es nie wahr wird, ebenfalls mitwächst. Es gibt einige Menschen, deren Wunsch erfüllt sich. Ich kann mich nicht erinnern, welche Wünsche ich jemals hatte. Mein einziger Wunsch ist es, herauszufinden, wer ich bin. Diese Erinnerung und dieses Boot waren für mich ein Zeichen der Hoffnung. Und wenn ich es jetzt so betrachte, wie es mir nichts sagt, ist alles wieder wie vorher. Es ist nichts. Mein Leben ist Nichts, weil ich nicht weiß, wer ich bin.“
„Aber Kioku…“, entgegnete Alayna, wurde aber von ihrem Bruder unterbrochen.
„Dass du nicht weißt, wer du warst, bedeutet doch nichts!“, drängte Takeru, „Das, was du jetzt bist, zählt doch! Und jetzt bist du Kioku und gerade nur auf einer Reise, um Antworten zu finden. Was ist so schlimm daran, dass das Boot dir nichts sagt? Du hast doch immer noch die Chance weiterzugehen und etwas anderes zu finden. Und wenn du nichts findest, ist das auch nicht schlimm, denn du hast uns kennengelernt und hast deine Reise mit uns geteilt und für uns bist du nicht Niemand, du bist Jemand! Und du bist toll und eine gute Freundin!“
Takeru schnaufte theatralisch. Dann, von der einen auf die andere Sekunde drückte Kioku den Jungen fest an sich, sodass er kaum Luft bekam. Dabei legte sie ihren Kopf auf seinen. Ihre Haare fielen über seine und für einen Moment sah es so aus, als würden Beide dieselben schwarzen Haare haben.
„Danke Tak“, bedankte sich Kioku. „Du hast ja so Recht, so pessimistisch kenn ich mich selbst gar nicht, bisher war ich immer motiviert weiterzugehen!“
Als sich Takeru endlich aus dem Schwitzkasten befreien konnte, musste Eimi laut lachen. Alayna nahm das ganze schwerer auf. Die Worte ihres Bruders waren so direkt, dass sie das erst einmal verarbeiten musste. Sie fühlte sich, als müsste sie jetzt auch etwas machen. Dann nahm sie Kiokus Hand, sah ihr direkt in die Augen.
„Gehen wir?“, schlug Alayna vor und die Gruppe machte sich auf den Weg zurück nach Vernezye, um dort einen geeigneten Ort für die Nacht zu finden.