Kapitel 64 – Mutter
Kapitel 65 – Das wahre Experiment
Kapitel 66 – Auf sich allein gestellt
Kapitel 67 – Einfach weitermachen
Kapitel 68 – Das letzte geheime Lager
Kapitel 69 – Die Mauer fällt
Kapitel 70 – Augen im Dunkeln
Kapitel 64 – Mutter
Als Kioku aufwachte, war es immer noch Nacht. Sie lag auf der Sitzfläche einer Kutsche; auf der gegenüberliegenden Sitzfläche lag Anon. Die Kutsche brachte sie vermutlich zurück nach Jiro-Khale und nachdem sie sich aufgerichtet und einen kurzen Blick nach draußen in die Dunkelheit geworfen hatte, glaubte sie, dass sie sich der massiven Stadtmauer näherten. Das gleichmäßige Knirschen der Räder auf dem sandigen Untergrund hatte einen beinahe einschläfernden Effekt.
Nachdem die Schutztruppler beide erstversorgt hatten, hatte Momogochu entschieden, dass Kioku und Anon schnellstmöglich eine bessere Versorgung in der Stadt erhalten sollten. Zudem schien sie enttäuscht darüber, dass in der Höhle, in der sich Miraa und Nafsu getroffen hatten, keine weiteren Hinweise über diesen gefährlichen Mann zu finden waren. Außerdem hatte Momogochu entschieden, schnellstmöglich Arec und Ryoma über das, was passiert war, zu informieren.
Kioku hatte etwas geschlafen, konnte jedoch nicht einschätzen, wie lange. Anon gab nur ein leises Atmen von sich. Direkt, als er auf die Sitzfläche gelegt worden war, war er vor Erschöpfung eingeschlafen; daran konnte sie sich erinnern. Sie konnte sich nicht ausmalen, wie es sich anfühlen musste, was ihm Miraa angetan hatte. Sie wusste von Anon, dass das Band ein verfluchtes Artefakt war, das sich über die Jahre immer mehr um Anons Körper gewickelt hatte. Dieser Fluch war wohl abgewandt und sie war froh darüber, aber zu welchem Preis war dies alles geschehen? Wieso war Miraa in der Lage, das Band zu kontrollieren und wieso gehorchte es auf ihm? Was hatte diese Waffe für ein geheimes Potential? Es konnte auf keinen Fall etwas Gutes bedeuten. Außerdem hatte er sich Eimis Schwert geschnappt. Letztendlich hatten sie es doch nicht geschafft, es zurückzuholen.
In dieser aussichtslosen Lage machte sich Enttäuschung in ihr breit. Sie waren gescheitert und jetzt hatte Miraa das Schwert. Was er nur damit plante? Fakt war, dass er mit dem Schwert und dem Band nun zwei mächtige Waffen zur Hand hatte. Wenigstens konnte es als kleiner Sieg verbucht werden, dass Nafsu, die anscheinend eine treue Angehörige unter Miraa war, ausgeschaltet war. Wenigstens konnte sie keinen Schaden mehr anrichten. Was hatte es zu bedeuten, als Miraa zu ihr meinte, sie solle die Kinder suchen? Meinte er damit Takeru und Alayna? Es konnte keinen Grund dafür geben, dass genau die beiden gemeint waren, oder doch? War es wegen des Tagebuchs? Oder des Kompasses? Sie hoffte, dass die beiden mittlerweile wieder im Hotel aufgekreuzt waren und dass sie nun in Sicherheit waren. Aber vielleicht sollte Kioku die beiden doch warnen. Wer wusste schon, was Miraa noch so im Schilde führte. Er war eine kaum einschätzbare Gefahr für alle. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken herunter und Gänsehaut überkam sie, als sie sich den Ausdruck in seinem Gesicht wieder ins Gedächtnis rief. Dieser Mann strahlte eine unglaubliche Boshaftigkeit aus, einen Anblick, den sie so schnell nicht mehr vergessen würde.
Durch einen Blick durchs Fenster bekam Kioku mit, dass sie sich wieder in Jiro-Khale befanden. Sie neigte ihren Kopf wieder zu Anon und beobachtete den Mann, in den sie so sehr verliebt war. Er lag still da. Seine Verletzungen zeichneten abstrakte Formen auf seinen Körper. Wenn sie ihn nicht atmen sehen würde, würde sie denken, er wäre tot. Wieder einmal hatte er alles dafür getan, um sie zu beschützen. Seine vom Schweiß durchnässten Haare klebten auf seiner Stirn. Sein Körper wirkte so viel dürrer, als sie es sich vorgestellt hatte. Er war zwar muskulös, dabei jedoch sehr schmal. Ob das eine Nebenwirkung vom Fluch des Bandes war?
Sie streckte ihre Hand aus und griff nach seiner. Ihre Finger hielten seine Hand fest. Reflexartig schloss sich seine Hand ebenfalls. Gänsehaut fuhr ihr beginnend von ihrer Hand über den Arm auf ihren ganzen Körper. Sie bemerkte es selbst nicht, aber ihr Gesicht errötete leicht.
Kioku wollte wach bleiben, um mitzubekommen, was nun geschah. Jedoch machte ihre Erschöpfung ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Anstrengungen des Kampfes und der Bewusstlosigkeit, in der sie sich während des Kampfes mit Nafsu befunden hatte, ließen sie in einen dämmrigen Halbschlaf fallen. Sie spürte, dass die Kutsche in dieser Zeit irgendwann zum Halt kam und dass sie in ein Gebäude getragen wurden. Mehrere Personen schienen sich um die beiden zu kümmern.
„Bitte, bitte kümmert euch um Anon“, brachte sie leise im Dämmerschlaf heraus.
Dumpf nahm sie eine Stimme wahr, die meinte: „Wir werden uns um euch beide kümmern.“
Erst nach einer Weile wachte Kioku aus ihrem kurzen Schlaf auf und fand sich in einem Krankenhausbett wieder. Sie sah sich um und entdeckte zu ihrer Beruhigung den schlafenden Anon neben sich. Er hatte einen friedlichen Gesichtsausdruck. In seinem Arm steckte eine Infusionsnadel. Verbände und Pflaster bedeckten seine Wunden.
„Er schläft“, erklärte die Stimme, die sie vorhin schon zu beruhigen versucht hatte. Kioku wandte ihren Blick in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sah dort Oto mit einem Klemmbrett in der Hand, wie sie dabei war, Unterlagen auszufüllen. Neben ihr auf einem Stuhl saß Ama.
Oto legte das Klemmbrett beiseite und trat an Kiokus Bett, um Kiokus Infusion zu überprüfen. „Mach dir keine Sorgen“, versuchte Oto, sie zu beruhigen. Ihr Gesichtsausdruck war dabei freundlich, so wie sie Oto auch kennengelernt hatte.
„Wir wurden hergebracht“, stellt Kioku fest. Jetzt merkte sie erst, dass ihre Kopfschmerzen immer noch nicht ganz verklungen waren.
„Ja, Momogochu hat euch sofort hierhergebracht. Sie ist gerade noch mit Ryoma in einem Gespräch. Er möchte dich später auch noch sprechen“, erklärte Oto und setzte sich an den Rand des Bettes. Dann fügte sie hinzu: „Wenn das in Ordnung für dich ist.“ Sie nahm Kiokus Hand in ihre und streichelte mit ihrer anderen darüber, so wie es nur eine Mutter tat, wenn ihr Kind krank war. „Ist alles in Ordnung?“
„Jetzt ja“, antwortete Kioku und blickte noch einmal auf Anon. Das gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust beruhigte sie. Irgendwo tief in ihr steckte die Angst, dass sie ihn hätte verlieren können – dass er hätte sterben können. „Aber …“, setzte sie an und wandte ihren Blick nicht von Anon ab.
„Es wird alles gut. Wir haben euch gut versorgt“, erklärte Oto. „Er braucht jetzt nur noch etwas Schlaf.“
„Er hat das Band nicht mehr“, sagte Kioku. „Wird es ihm wieder gut gehen?“
„Ich denke schon. Aber die Zeit wird es zeigen müssen“, vermutete Oto und streichelte weiter Kiokus Hand. „Bitte mach dir darüber keine Sorgen, Kioku. Wir sind da und helfen, sodass nichts Schlimmes passieren wird.“
„Ich danke euch“, bedankte sich Kioku und hielt für einen Moment inne.
Otos Gesichtsausdruck war freundlich. Kioku fühlte sich bei ihr gut aufgehoben und in Sicherheit. Ama lächelte sie auch an. Dann fiel ihr die Narbe auf seiner Nase auf, die sich nicht ganz symmetrisch über beide Wangen zog. Sie bemerkte nicht, dass ihr Blick an seinem Gesicht hängen blieb. Die dunklen Augen starrten verwundert zurück. Etwas erkannte sie an Amas Gesicht, das sie noch nicht zuordnen konnte. Das Gefühl, dass sie bei ihrer letzten Begegnung bei ihm gehabt hatte, wurde wieder wach. Ihr Kopf tat weh. Als Oto aufstand, um ihrer Arbeit wieder nachzugehen, sagte Kioku etwas, von dem sie so lange geglaubt hatte, es niemals sagen zu können: „Ich erinnere mich.“
Oto blieb stehen und wandte sich wieder Kioku zu, wohl erstaunt darüber, dass es auch ohne weitere Behandlung endlich funktioniert hatte, dass Kioku sich erinnerte.
„Ich erinnere mich wieder“, fing sie an zu erzählen. Kioku starrte immer noch auf Ama, nun jedoch durch ihn hindurch, ohne Fokus ins Nichts. „Meine Mutter hieß Shio. Shio Enshû.“
Ama stand nun auf und Oto ging zu ihm. Sie hielten sich fest und Ama war dabei, etwas zu sagen, wurde jedoch von Oto wortlos darauf hingewiesen, dass es jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt war. Kioku erzählte weiter.
„Ihr Name war Shio Enshû. Und mein Name war Aoko Enshû. Wir lebten allein“, erklärte Kioku. Dabei kamen ihr die Augen ihrer Mutter ins Gedächtnis, welche die gleiche Farbe hatten wie Amas. Deswegen ähnelten sich auch der Ton der Haut und die Haarfarbe beider. „Wir lebten allein auf diesem Kontinent. Sie hatte es mir nur einmal erzählt, aber wir waren auf der Suche. Ich glaube, auf der Suche nach unserer Familie. Sie sprach immer davon, dass wir nicht allein waren. Obwohl ich keinen Vater und keine Geschwister hatte, hatte Mutter das immer wieder behauptet. Aber wir waren vollkommen allein. Mein Leben lang war ich es gewohnt, mit ihr immer auf der Suche zu sein, nach einem Phantom, das wir niemals erreichen sollten. Als wir die komplette Westküste des Kontinents abgesucht hatten, versuchten wir es im Landesinneren. Im Norden, Osten, Westen oder im Süden, wir hatten nie Erfolg. Als ich vorschlug, auf anderen Kontinenten zu suchen, lehnte Mutter ab. Für die Überfahrt auf andere Kontinente hatten wir kein Geld. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sich die Antwort hier auf Ruterion befand. Ich hatte es von klein auf niemals hinterfragt, warum wir suchten. Ich akzeptierte es einfach mit der Naivität eines Kindes, das Dinge einfach akzeptiert. Sie ist alt geworden und ich hatte das Gefühl, dass sie der Verlust einer Familie, die ich niemals kannte, wahnsinnig machte.“
Als Kioku kurz pausierte, um sich einerseits besser auf dem Bett zu positionieren und andererseits um sich weiter zu erinnern, nahm sie gar nicht wahr, dass Ama seine Frau fest im Arm hielt. Er wollte sie unterbrechen und etwas sagen, jedoch hielt ihn Oto davon ab.
„Lass sie ihre Geschichte bis zum Ende erzählen“, bat sie ihn flüsternd. Und er tat es.
„Ich konnte sie aber nicht allein lassen. Sie war schließlich meine Mutter und wir hatten nur uns gegenseitig. Was hätte ich denn anderes machen sollen? Es gab nichts in unserem Leben: keine Freunde, kein Zuhause, keine Familie. Nur die Suche. Es gab nur die Suche und uns. Ich hätte es niemals geschafft, meine Mutter in dieser Situation allein zu lassen. Also musste ich ihr helfen. Es gab keinen anderen Weg, außer diesem. Zu irgendeinem Zeitpunkt ist es passiert, dass meine Mutter von einem geheimen Lager erfuhr, in der Daten zu Menschen gesammelt wurden. Es war kein offizielles Lager, nichts von der Regierung. Es gehörte einer geheimen Organisation, der wir bis zu diesem Moment immer zufällig aus dem Weg gegangen waren. Mutter war überzeugt, dass sich in diesem Lager Daten befanden über unsere Familie, die Hinweise über ihren Aufenthaltsort verrieten. Also brachen wir ein und stahlen etwas. Es war so chaotisch und hektisch, dass ich nicht mehr genau sagen kann, was wir da eigentlich gestohlen haben.“
Sie machte eine kurze Pause. Es war, als brauchte sie einen Atemzug Zeit um noch tiefer in ihren Erinnerungen zu forschen und um sich besser konzentrieren zu können. Dann setzte sie ihre Geschichte fort.
„Wir wurden erwischt und gejagt. Diese Leute, die sich in schwarzer Kampfausrüstung kleideten, jagten uns durch das ganze Land. Wir hatten keine Chance, ihnen zu entkommen. Ich glaube, das war auch der Grund, wieso diese Leute mich als Kioku weiter verfolgt haben.“
„Die Shal“, fügte Oto leise hinzu.
„Ich … ich …“, stotterte Kioku nun. Tränen stiegen in ihre Augen und es fiel ihr schwer zu schlucken. „Ich konnte meine Mutter am Ende nicht retten. Sie haben uns in die Enge getrieben, irgendwo an der Küste. Es war so hoch und so steil. Diese Leute attackierten uns. Meine Mutter wollte mich beschützen, also …“
„Also, was?“, hakte Ama gespannt nach.
„Sie fing den Angriff für mich ab und stieß mich von der Klippe. Sie musste gespürt haben, dass es die einzige Chance für mich war zu überleben. Während ich fiel, sah ich, wie sie starb. Dann stürzte ich ins Meer und wachte als Kioku wieder auf.“ Die Tränen liefen nun über ihre Wangen, ausgelöst durch einen Verlust, von dem sie so lange nichts gewusst und den sie dennoch gespürt hatte.
Es fühlte sich merkwürdig befreiend an, die Puzzleteile, die sie so lange nicht hatte zusammenstecken können, nun endlich zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die wenigen Erinnerungen, die sie bisher hatte, waren jedoch so klar, als wäre sie schon immer Aoko gewesen. Hatte sie es nun geschafft? Geschafft, sich selbst zu finden, nach all der langen Zeit? War sie nun Aoko, oder Kioku? Diese Frage konnte sie nun noch nicht beantworten. Es war dafür einfach zu früh; das spürte sie genau. Ihr blieb nun nur übrig, etwas Zeit verstreichen zu lassen, bis alle Erinnerungen wiedergekommen waren. Dann konnte sie sich immer noch entscheiden, wer sie sein wollte – obwohl die Antwort auf diese Frage schon in ihr steckte.
Ama und Oto gingen auf sie zu und hielten sie fest. Sie umarmten sich und verblieben so für eine Weile, sich tröstend in den Armen. Als sie sich lösten und Kioku wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, sah sie die beiden fragend an. „Was bedeutet das alles?“
„Du scheinst dich langsam wieder zu erinnern, Kioku“, erklärte Oto. „Der Prozess wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern. Wenn du möchtest, werde ich dich gerne weiter behandeln und dich bei diesem Prozess unterstützen.“
„Außerdem“, fügte Ama hinzu, „scheint es, als wärst du meine Schwester.“
Was hatte Ama da gerade gesagt? Er war ihr Bruder? Natürlich, wenn ihre Mutter Shio Enshû hieß, dann wusste sie nun, warum sie auf Amas und Otos kleinste Tochter so merkwürdig reagierte. Ama hatte seine Kinder unter anderem nach seiner Familie benannt.
„Ich dachte, ich hätte meine Familie verloren, als ich ein kleiner Junge war. Sie waren bei einem Schiffbruch verschwunden. Jahrelang hatte ich nach ihnen gesucht und niemanden gefunden. Erst als ich Ginta, Oto und Ryoma kennengelernt hatte, konnte ich mich von meiner Verzweiflung lösen und einen neuen Weg einschlagen. Genau auf diesem Weg habe ich gelernt, dass meine Mutter – entschuldige, unsere Mutter – sich eine Zeit lange in Yofu-Shiti aufgehalten haben musste. Aber sie war bald daraufhin verschwunden. Wir dachten, sie sei einfach verstorben. Aber dass sie noch ein Kind bekommen hatte, war uns nie klar. Aber nun herauszufinden, dass du meine Schwester bist, dass …“, Ama musste kurz innehalten. Kioku sah, wie er nun weinte. Er nahm ihre Hand in seine und ließ sie nicht los. „Dass bedeutet alles für mich. Und ich möchte, dass du weißt, dass ich als dein Bruder nun immer für dich da sein werde!“
Ama sprach plötzlich ganz schnell und aufgeregt und gleichzeitig weinte er. Seine Stimme war dabei warm und freundlich und das kam Kioku ganz bekannt vor. So hatte er auch mit der kleinen Shio gesprochen. Auch Kioku fühlte nun eine besondere Wärme in sich.
Ama deutete auf die Narbe, die eine Linie quer über seine Nase zog und sagte: „Ich schätze, unsere Narben sind sich ganz ähnlich. Sie soll mich ab sofort daran erinnern, dass ich nicht alles verloren habe, sondern dass ich etwas besonderes dazu gewonnen habe: in dir eine Schwester.“
„Wir sind Geschwister?“, wiederholte Kioku mit einem Grinsen im Gesicht, während sie ihre Narbe an der Schläfe ertastete, die ein Beweis dafür war, dass sie sich in ihren Erinnerungen nicht täuschte. Es fühlte sich komisch an, das auszusprechen. Aber es beantwortete irgendwie das merkwürdige Bauchgefühl, dass sie seit ihrer ersten Begegnung mit Ama mit sich herumtrug. Sich daran zu erinnern, was mit ihrer Mutter passiert war, machte ihr immer noch gehörig Kopfschmerzen. Dass sie nun einen Bruder haben sollte, lenkte sie etwas von diesen Schmerzen ab.
„Ich weiß, das ist gerade vielleicht etwas viel für dich“, sagte Ama vorsichtig, „aber vielleicht hast du Lust, nachdem das alles hier vorbei ist, bei uns zu bleiben? Oto unterstützt dich mit deiner Genesung und wir … wir könnten uns besser kennenlernen.“ Ama machte eine kurze Pause und klang sehr hoffnungsvoll. Oto sah ihn mit einem besorgten Blick an.
Kioku war tatsächlich etwas überfordert mit der Situation. Die Geschehnisse mit Anon, dem plötzlichen Erinnern und der Gefahr des Krieges, die immer noch leise lauerte, ließen sie keine Entscheidung treffen. Ihr fragender Gesichtsausdruck schien Ama und Oto jedoch genug Antwort zu sein.
„Lass dir mit der Antwort ruhig etwas Zeit“, schlug Oto vor. „Es passieren gerade so viele Dinge.“
Sie nickte und fühlte sich ganz dankbar, noch etwas Bedenkzeit zu bekommen. Aber Etwas, das sich tief in ihr befand, verriet ihr schon die Antwort auf alles. Sie atmete einmal tief ein und wieder aus. Das ließ Kioku sich an etwas sehr Wichtiges erinnern. „Tak und Alayna! Habt ihr sie gefunden?“, stieß es aus ihr heraus. „Sind sie wieder zurück?“
Oto schüttelte den Kopf. „Sie sind nicht mehr in der Stadt. Deswegen haben die Vastus Antishal und die Schutztruppe angefangen, außerhalb der Stadt nach ihnen zu suchen.“
Kioku war schockiert. Ihre Freunde waren immer noch nicht aufgetaucht? Dabei war doch schon mehr als ein halber Tag vergangen. Irgendwo mussten sie doch sein. Selbst Eimi hatte die beiden nicht gefunden? Das konnte nichts Gutes bedeuten.
In jenem Moment, als Kioku enttäuscht darüber war, was alles in ihrem Leben gerade den Bach hinunter ging, dachte sie darüber nach, wie nah sie und Anon dem Tod gestanden hatten. Im Kontrast dazu sah sie sich selbst neben ihrer neu gewonnenen Familie und freute sich darüber. Dann vermisste sie Takeru und Alayna, die sie mittlerweile wie ihre eigenen Geschwister sah. Genau in jenem Augenblick öffnete sich die Türe und eine Person trat herein, die sie am allerwenigsten erwartet hätte.
Es war die Mutter von Takeru und Alayna. Sora trat durch die Tür hinein.
Und jetzt, viel mehr als früher schon, als sie Sora damals zum ersten Mal gesehen hatte, fielen Kioku all die Ähnlichkeiten auf, die Soras Kinder mit ihr teilten. Sie hatte die gleiche schwarze Haarfarbe wie Takeru. Auch ihre Augen waren von so einem dunklen Blau, dass es schon fast schwarz war. Das Gesicht und die Form der Augen jedoch, die waren genauso wie bei Alayna. Noch nie hatte sie eine Mutter gesehen, von der man so deutlich sehen konnte, wer ihre Kinder waren. Kioku bemerkte nicht, wie ihr kurz der Atem stockte. Sie empfand zwar keine Angst, jedoch eine merkwürdige Anspannung, die sich zunächst nicht löste. Es waren vielleicht auch etwas die Schuldgefühle darüber, dass Kioku sie damals belauscht hatte und deswegen auf die Idee gekommen war, überhaupt nach Jiro-Khale zu reisen. Sie hatte all die Ereignisse, die passiert waren, angestoßen. Hätte sie Takeru doch nur niemals auf die Idee gebracht, hierherzukommen. Dann wären all die schlimmen Dinge niemals passiert.
Ihr Sichtfeld wurde unklar, als sich mehr Tränen in ihren Augen sammelten.
„Ryoma ist gleich bereit“, erklärte Sora den anderen.
Ihre Stimme war wunderschön. Kioku rieb sich die Augen, um wieder klar zu sehen, brachte zunächst aber kein Wort heraus.
„Du bist also Kioku“, erkannte Sora und sah sie direkt an. Ihr Blick wich ihr nicht aus, so wie es bei manchen Menschen war, die man kennenlernte. Manche Leute sahen einen nur kurz an und dann wieder zu Boden, weil man sich noch nicht gut genug kannte, um sich länger als einen Augenblick in die Augen zu schauen. Soras Blick jedoch wich nicht zurück. Er ließ nicht ab. Kioku sah der Mutter ihrer Freunde direkt in die Augen. Sie hatte so viele Fragen über diese Person, die für eine Weile unbeantwortet bleiben mussten.
Dann geschah etwas, das Kioku niemals erwartet hätte. Sora verbeugte sich, um sich zu bedanken.
„Danke, dass du dich um meine Kinder gekümmert hast. Danke, dass du Tak und Alayna beschützt hast“, bedankte sich Sora mit einem Zittern in ihrer Stimme, die verriet, dass sie sehr gerührt sein musste. Während Oto ihr tröstend eine Hand auf die Schulter legte, verharrte sie in dieser Verbeugung.
Wie sollte Kioku darauf nur reagieren? Natürlich hatte sie die beiden beschützt, als sie allein durch die Gegend gestreift waren, auf der Suche nach ihrem Vater, verfolgt von einer Organisation, die das Ende der Welt hervorrufen wollten. Zu diesem Zeitpunkt merkte Kioku, dass sie keine Energie mehr hatte, um sich zurückzuhalten. Die Gefühle, die sie hatte, schwappten ungefiltert an die Oberfläche. Sicherlich wollte Sora auch nur das Beste für ihre Kinder, aber …
„Wo warst du?“, entgegnete sie der Mutter ihrer Freunde in einem unfreundlichen Ton, den sie so nicht beabsichtigt hatte.
Sora sah sie erschrocken an. Sicherlich hatte sie diese Reaktion nicht erwartet.
„Wo warst du, als Alayna gefangen genommen wurde, als wir miterleben mussten, wie eine Frau vor unseren Augen entführt wurde und sich später herausstellte, dass sie wegen Experimenten ums Leben kam? Wo warst du, als Tak seinen ersten Ausbruch hatte und als wir kämpfen mussten? Wo warst du, als sich unsere Wege trennen mussten und sich Alayna Sorgen um ihren Bruder machte, weil er allein losgezogen war? Wo warst du all die Zeit, als sich deine Kinder ungeheure Sorgen machen mussten, wie es dir geht und ob du überhaupt am Leben bist?“
„Kioku, hör mal, du hast keine …“, fing Oto an, ihre Freundin zu verteidigen.
„Ist schon gut“, unterbrach Sora sie. „Kioku hat recht. Ich war nicht da.“ Sie hielt kurz inne, dann traute sich Sora, Kioku wieder direkt in die Augen zu blicken. „Ich war nicht da. Ich war woanders und versuchte, meinen Ehemann zu finden, der seinen Plan, die Welt zu retten, nicht mit mir teilte.“
„Wie meinst du das?“, hakte Kioku nach, die sich nun schlecht fühlte, dass sie sich nicht hatte zurückhalten können.
„Als unser Zuhause abbrannte, fing mich Ryoma ab“, erklärte Sora. Oder rechtfertigte sie sich? Kioku war sich darüber nicht sicher. „Er hatte mir versprochen, sich um die Kinder zu kümmern. Dafür sollte ich den wenigen Spuren, die Ginta bei seinem Verschwinden hinterließ, folgen und ihn finden.“
„Aber Ryoma hatte die Kinder allein gelassen“, erinnerte sich Kioku.
„Er wurde in Kämpfe verwickelt, genau wie ich“, erzählte Sora weiter. „Die Organisation, die wir früher Shal nannten, griffen uns unentwegt an und bis ich wieder so weit war, dass ich der Suche nach Ginta nachgehen konnte, war einerseits unser Zuhause bis zur Ascheruine heruntergebrannt und die Kinder waren verschwunden.“
„Aber wieso hast du dich damals in Yofu-Shiti nicht getraut, deine Kinder zu sehen?“, warf ihr Kioku vor. Otos verwirrten Blick folgend, musste sie nun gestehen, dass sie die Gruppe um Ryoma, Oto und Sora damals belauscht hatte. „Ich habe euch gehört, wie ihr euch abgesprochen habt. Damals, als ihr euch in Otos Büro getroffen habt.“
„Ich habe Ryoma damals versprochen, dass ich mich komplett auf die Suche nach Ginta konzentrieren würde. Er selbst wollte Tak und Alayna aufsuchen, um sie zu beschützen. Sein Plan war es immer, die beiden von jeglicher Gefahr fernzuhalten. Aber wie es kommen sollte, hatten meine Kinder oft ihren eigenen Plan. Was die Suche nach meinem Mann betrifft, vermutete Ryoma, dass ich die stärkste Verbindung zu ihm hätte und es mir deswegen leichter fallen würde, ihn zu finden. Ich schätze, da hatte er sich getäuscht. Außerdem habe ich mich etwas geschämt, dass ich sie so lange im Stich gelassen hatte, …“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein Mann mit langen, schwarzen Dreadlocks kam herein. Es war Ryoma, der offensichtlich vor der Tür gelauscht hatte.
„Wenn zwei Herzen sich so nahestehen, dass diese schicksalhafte Begegnung derjenigen zu einer untrennbaren Vereinigung führt, einer Liebe, die so besonders ist wie eure, dann lässt das nur den Schluss zu, dass du diejenige sein musstest, die Ginta sucht. Eure gemeinsame Geschichte ist in jeglicher Hinsicht so besonders, dass ich hoffte, dass du in der Lage wärst, ihn zu finden. Was sollte ich in dieser Rolle als Freund schon ausrichten?“, erklärte sich Ryoma und schien fast traurig darüber zu sein. Oto sah Ryoma mit einem verständnisvollen Blick an, als würde sie sagen wollen ‚Du hast uns von draußen schon die ganze Zeit belauscht, nicht wahr, alter Freund?‘.
Von was sprach er da? Liebe bedeutete mehr als Freundschaft; war das wirklich so? War Freundschaft nicht auch eine Form von Liebe? Das war eine Frage, die Kioku für sich noch nicht klären konnte.
„Ich bin dir auf jeden Fall unendlich dankbar“, bedankte sich Sora und wandte sich dabei Kioku wieder zu. „Was du für meine Kinder getan hast, werde ich nie vergessen.“
Kioku wusste nicht, ob sie den Dank annehmen sollte oder ob sie Sora auch noch verzeihen konnte, dafür, dass sie ihre Kinder so lange allein gelassen hatte. Sie hob eine Hand, um zu signalisieren, dass es irgendwie in Ordnung war, zumindest für den Moment. Sie brauchte einfach noch etwas Zeit, um sich darüber klar zu werden, wer hier welche Rolle zu spielen hatte und was das alles zu bedeuten hatte. Wichtig war nun eigentlich, Takeru und Alayna zu finden, Anon zu helfen und diesen Krieg, der dort draußen lauerte, aufzuhalten.
Ryoma schien genau das Gleiche zu denken. „Nun genug von den Entschuldigungen. Ich muss alles wissen, was du zu berichten hast, Kioku. Vor den Toren der Stadt macht sich der Feind bereit zuzuschlagen. Bevor diese Gefahr, die in jeder Minute über uns hereinbrechen kann, uns zum Handeln zwingt, möchte ich alles wissen, was geschehen ist.“
„Aber was ist mit Tak und Alayna?“, fragte sie besorgt.
„Keine Sorge“, beruhigte sie Ryoma. „Die Schutztruppler und die Mitglieder der Vastus Antishal haben vor nicht allzu langer Zeit eine großräumige Suche gestartet, um die beiden zu finden. Früher oder später finden wir sie. Wichtig ist es jetzt, uns einen strategischen Vorteil darüber zu verschaffen, dass wir den Feind besiegen können.“
„Du meinst Miraa Liade?“, hakte Kioku zur Sicherheit noch einmal nach.
„Genau, und seinen unzähligen Anhängern“, sagte Ryoma kühl. „Erzähl mir nun bitte, was du alles weißt.“
Das tat Kioku.
Kapitel 65 – Das wahre Experiment
Eimi zwickte sich in seinen Arm, um zu überprüfen, dass er sich nun wirklich wieder in der Realität befand. Das Gefecht war in vollem Gange. Die Mitglieder der Vastus Antishal und die Schutztruppler kämpften mit den Schergen von Vaidyam. Dieser hingegen starrte Eimi direkt in die Augen und sein Lächeln änderte in dem Moment seinen Ausdruck, als er realisierte, dass Eimi sich aus dem telepathischen Gefängnis befreit hatte. Enttäuschung und Wut waren nun erkennbar. Vaidyam wandte sich seiner weiblichen Begleitung zu und schlug dem Mädchen, dessen Kopf er gerade noch gestreichelt hatte, ins Gesicht.
Der Mund des Mädchens öffnete sich und ein stummer Aufschrei war zu sehen, als sie sich das Gesicht vor Schmerz hielt und zurücktaumelte. Sie stolperte über einen Stein und fiel auf den Boden.
Genau jetzt bewegten sich Pecos, Khamal, Shin, Ea und Tsuru wieder, wie als hätten sie sich in genau so einem Albtraum befunden wie Eimi gerade.
„Tsuru, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Eimi nach, als er ihr aufhalf. Tränen liefen über ihre Wangen und sie schien noch einen Moment zu brauchen, um sich in der Realität wiederzufinden.
„Sie waren alle …“, stammelte sie leise und blickte durch Eimi hindurch, „… sie waren alle fusioniert. Sayoko, Aisah, Pecos und Kûosa. Fusioniert zu einem Monster. Ich wollte das nicht, ich wollte das nicht!“
Eimi drückte sie fest an sich.
„Es war nur ein Traum, Tsuru“, erklärte er. „Das war nicht echt.“
„Nicht echt?“, sie sah sich verwirrt um und entdeckte Pecos, dem von Khamal hochgeholfen wurde. Dann löste sie sich von Eimi und fiel Pecos in die Arme.
„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt. Sie sah sich Pecos genau an. Er hatte ein Veilchen am linken Auge. Mehrere Kratzer und Schürfwunden waren auf seinen Armen und in seinem Gesicht zu sehen. Blut quoll aus einer kleineren Wunde an seiner Schläfe.
„Alles gut“, meinte er und überprüfte Tsurus Zustand. Ihm schien es gar nicht so wichtig zu sein, wie es ihm selbst ging.
Eimi wandte sich wieder Vaidyam zu, der mittlerweile von seinem Thron aufgestanden war und zu Mirna ging. Er packte sie an den Haaren und zog das am Boden liegende Mädchen hoch. Sie schrie vor Schmerz auf.
„Du wertloses Experiment! Verschwendet habe ich die wertvollen Einzelteile!“, brüllte Vaidyam und zog sie mit sich. Mirna trat um sich und versuchte sich vom Griff Vaidyams zu lösen, schaffte es aber nicht.
„Lass das!“, rief Eimi ihm zu und hielt sein Schwert fest in den Händen. Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, dass sich die anderen auch zum Kampf bereit machten. „Lass sie gehen!“
„Eines meiner wertvollsten Experimente? Auf keinen Fall!“, lachte Vaidyam nur. „Sieh sie dir an! All die Zeit, die ich in sie hineingesteckt habe, um ihre telepathischen und telekinetischen Fähigkeiten zu verstärken. Sie ist eine perfekte Kriegerin!“ Er fletschte mit den Zähnen, als seine Augen wahnsinnig aufflammten. „Du musst nur schön das machen, was ich dir sage. Warum konnte er sich aus dem telepathischen Gefängnis befreien!?“ Vaidyam zeigte auf Eimi.
Als Mirna jedoch nicht antwortete, griff Vaidyam nun mit seiner anderen Hand nach ihrem Hals und drückte zu. Mirna röchelte und griff flehend nach Vaidyams Händen. Sie hatte keine Chance. Sie konnte sich nicht befreien.
„Sag schon!“, brüllte Vaidyam sie an und spuckte ihr dabei ins Gesicht.
„Er … er …“, röchelte sie vor sich hin, darum kämpfend, etwas Luft zu bekommen, „… hat keine Angst.“
„Was soll das bedeuten!?“, schrie Vaidyam und stieß Mirna zu Boden. „Ich sorge dafür, dass du Angst bekommst!“
Vaidyam schnippte mit dem Finger. Obwohl um den Platz herum die Mitglieder der Schutztruppe und der Vastus Antishal alles taten, die zu Monstern verwandelten Menschen in Schach zu halten, war das Geräusch des Schnippens klar zu hören. Racun und Andme, die zwei einzig übrig gebliebenen Teammitglieder Vaidyams, wandten sich sofort zu ihm und kamen näher. Vaidyam ging zu seinem Thron und öffnete ein geheimes Fach, das sich unter seinem Sitz befand. Daraus holte er zwei Spritzen, die im Schein der Fackeln golden glänzten.
„Was hast du vor!?“, rief Eimi.
„Wirst du schon sehen“, antwortete Vaidyam mit einem siegessicheren Grinsen. Er nahm in jeweils eine Hand eine der Spritzen.
Eimi wusste, dass nun etwas Schlimmes passieren musste. Im Bruchteil weniger Augenblicke würde Vaidyam seine zwei Untergebene wahrscheinlich ebenfalls in Monster verwandeln. Eimi blieb nicht genug Zeit, Vaidyam die Spritzen aus der Hand zu schlagen. Deswegen musste er sich etwas anderes einfallen lassen.
„Pecos, Khamal, haltet ihn auf!“, rief er und bat somit die Schutztruppler um Hilfe.
Pecos, der gerade dabei war, einen der kräftigen Fleischberge mit einem Tritt aus dem Gleichgewicht zu bringen, zögerte nicht, zielte mit seinem Revolver auf Vaidyam und drückte ab. Khamal hingegen kassierte einen Schlag seines Gegenübers, damit er schnell genug mit seinen Fingern einen Lichtstrahl auf Vaidyam abfeuern konnte.
Wie als wäre Vaidyam von einer unsichtbaren Barriere geschützt, prallten die Kugel und der Lichtstrahl von ihm ab und wurden in den Himmel abgelenkt, wo beide verschwanden. Vaidyam lachte wie ein Irrer, als er Racun und Andme jeweils die Spritze in den Hals steckte und die darin befindliche Flüssigkeit injizierte.
Eimi sah, dass Mirna eine Hand nach oben hielt, wahrscheinlich die Geste, welche die Schutzbarriere um Vaidyam erzeugte.
„Warum hast du das getan, Mirna!?“, warf er ihr sorgenvoll vor. „Er behandelt dich wie Dreck!“
Mirna blickte Eimi an und er sah, dass Tränen aus ihren Augen flossen. Hatte sie etwa keine Wahl? Sie musste eine Wahl haben!
„Mirna, wir können dir helfen!“
Sie bewegte sich nicht. Dann entschied sich Eimi doch dazu, zum Mädchen zu rennen und zu schauen, wie es ihr genau ging. Durch den Schlag, den sie von Vaidyam abgekommen hatte, blutete sie aus der Nase und ihre obere Lippe war aufgeplatzt. Es fühlte sich merkwürdig an, ihr nun so nah zu sein und das dritte Auge, das sie auf der Stirn hatte, genau zu sehen.
Während die anderen immer noch im Kampf feststeckten und ihm nicht helfen konnten, musste er sich nun erst selbst helfen, indem er Mirna klarmachte, auf welche Seite es sich zu wechseln lohnte.
„Ich kann dir helfen, Mirna“, fing Eimi an zu überzeugen. „Wir können dir helfen. Ich kenne tolle Leute, die dich unterstützen und für dich da sein können, wenn du jemanden brauchst. Dieser Typ nutzt dich doch nur aus und missbraucht dich.“
Sie sah ihn zweifelnd an. Die drei Augen wirkten wässrig und Eimi merkte, dass sie zitterte.
„Vertrau mir“, bat Eimi und hielt ihr eine Hand hin, die sie nehmen konnte. Mirna hob zögerlich ihre Hand und kam Eimi näher, hielt jedoch plötzlich inne. Die flache Hand formte sich und nur noch ihr Zeigefinger war auf Eimi gerichtet. Oder zeigte sie auf etwas anderes?
Eimi nahm den großen Schatten gar nicht wahr, der über ihm lauerte. Erst, als er den ekelerregenden Gestank roch, spürte er, dass dort etwas war. Doch bevor er sich umdrehen konnte, wurde er von einer riesigen Pranke umgehauen. Racun und Andme befanden sich zwar immer noch in ihrer Verwandlung, aber die Metamorphose war schon so weit vorangeschritten, dass ihre deformierten Körper muskulöser wurden.
Eimi schlitterte über den mit scharfkantigen Steinen versehenen Boden einige Meter von Mirna weg. Er schrie vor Schmerz auf, als er mit dem Rücken gegen einen Felsen stieß.
Andme, die mittlerweile auf die doppelte Größe angeschwollen war, packte Mirna und hielt sie in die Luft. Das Mädchen kreischte auf. Vaidyam lachte.
„Wenn meine beste Kriegerin nicht will, dann muss ich eben auf die gute alte Muskelkraft zurückgreifen!“, lachte Vaidyam begab sich wieder auf seinen Thron. „Das wird ein Fest!“
Eimi richtete sich langsam auf und griff nach dem Schwert, das er für einen Moment hatte loslassen müssem. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Körper.
Die Situation war ziemlich brenzlig. Vaidyam hatte so viele Krieger, dass die Vastus Antishal und die Schutztruppe alle Hände voll zu tun hatten. Auch Pecos, Khamal, Shin und Tsuru waren nun vollkommen damit beschäftigt, gegen ihre Gegner anzukommen. Es wirkte fast so, als würden sie sich wegen des Kampfes immer weiter vom Platz entfernen. Eimi sah nun zu, wie die verwandelte Andme Mirna in die Höhe hielt und mit ihrer monströsen Faust zudrückte. Racun hingegen wandte sich Pecos zu und wollte ihn attackieren.
Ein Aufschrei erhallte plötzlich, der im Getümmel gut zu hören war. Auf einmal fiel vom Himmel Ea herab, der brüllend vor Vaidyam landete. Beide seiner Arme waren in Felskrallen verwandelt. Wo war Ea die ganze Zeit gewesen? Er hatte sich doch noch gerade hypnotisiert neben Eimi befunden. Hatte er sich, ohne dass er es bemerkt hatte, versteckt?
„Ich bringe dich um!“, kreischte Ea und gab einen merkwürdig klingenden Kampfschrei von sich. Dann stürzte er sich auf Vaidyam, der schnell genug von seinem Thron hopste. Eas Felskrallen zerschmetterten den Thron und dessen Einzelteile flogen im hohen Bogen über das ganze Geschehen.
Vaidyam schnipste mit dem Finger und Andme ließ daraufhin Mirna wieder in den Dreck fallen und wandte sich nun Ea zu. Ihre riesigen Hände knackten, als sie eine Faust bildete und versuchte auf Ea einzudreschen. Dieser stemmte sich mit all seiner Kraft in den Boden und versuchte, die Faustschläge mit seinen Steinkrallen abzuwehren.
„Schick ruhig deine Sklaven auf mich, ich werde dich trotzdem zerschmettern!“, brüllte Ea wieder.
Das sah Eimi als Chance, nahm sein Schwert fest in die Hand und stürmte auf Vaidyam zu, der mittlerweile auf dem Weg zu Mirna war.
Eimi sah genau, noch bevor Vaidyam Mirna erreichte, wie eine seiner Hände in seine Kitteltasche wanderte und genau so eine Spritze herausholte, wie er sie für Andme und Racun verwendet hatte. Eimi gab noch mehr Gas und holte zu einem Schwerthieb aus. Genau in dem Moment, als die Spritze dem Mädchen gefährlich nah kam und sich ein finsteres Grinsen auf Vaidyams Gesicht abzeichnete, nahm Eimi all seine Energie zusammen und schlug zu.
Als die Klinge hinabsauste und das Blut anfing zu spritzen, fiel die Spritze auf den Boden und der empfindliche Glaskörper zerbarst. Neben der Spritze lag Vaidyams Hand. Er rollte sich auf den Boden und schrie vor Schmerz, als er versuchte, seine Wunde mit der anderen Hand und dem Stoff seiner Kleidung abzudrücken.
Eimi schnaufte schwer, als er der Szene zusah. Mirna wandte sich ihm langsam zu und ihre drei Augen waren weit aufgerissen. Die frischen Blutspritzer mäanderten über ihr Gesicht.
„Du verdammtes Balg!“, brüllte Vaidyam.
„Eimi!“, rief nun auch Ea, der für einen kurzen Moment Andme ins Taumeln hatte bringen können. Er rannte auf Eimi zu. „Das wollte ich doch machen!“
Erst jetzt bemerkte Eimi, wie sehr er zitterte. Hatte er gerade wirklich jemanden mit seinem Schwert die Hand abgeschnitten? Warum ging das so leicht? Warum erst jetzt fing Mirna an zu kreischen? Während sich Vaidyam fluchend und brüllend auf dem Boden wälzte, tastete Eimi zögerlich sein Gesicht ab. Er spürte die warme Flüssigkeit auf seiner Wange und erstarrte. Das Einzige, was nun noch intensiver war, war das Beben des Bodens, als Andme sich wieder auf die Beine begab und nun mit vollem Tempo auf Eimi und Ea zugerannt kam. Sie war so schnell, dass Ea keine Zeit hatte zu reagieren und mit einer einfachen Handbewegung beiseite geklatscht wurde. Er flog einige Meter weit, bis er an die Felswand aufschlug. Das Beben war so intensiv, dass das Schwert aus Eimis Hand fiel.
Andme drehte sich nun zu Eimi, holte mit ihrer gigantischen Pranke aus und wollte zuschlagen.
„Eimi!“, rief Mirna in Gedanken zu ihm. Er schreckte aus seiner Trance, bückte sich schnell und blockte den Angriff Andmes mit seinem Schwert. Weil Andme das nicht erwartet hatte, taumelte sie zurück und hielt sich verwundert die Faust mit ihrer anderen Hand.
Hatte Mirna gerade telepathisch mit ihm gesprochen? Es wirkte auf ihn, als hätte er sie mit seinen Worten doch erreicht.
Plötzlich erhellte ein Lichtstrahl die Szene, der aus der Richtung Khamals auf Andme gefeuert wurde. Er traf sie so am Arm, dass eine brennende Wunde kleine Rauchschwaden aufsteigen ließ. Andme brüllte vor Schmerz. Das ließ Racun, der gerade mit Shin und Tsuru kämpfte, sich umdrehen und für eine Sekunde die Aufmerksamkeit verlieren. Das gab Shin die Möglichkeit, Racun so von hinten zu treffen, dass er zu Boden stürzte. Er ließ ihn mithilfe von einigen Schutztrupplern fesseln.
Das ganze Geschehen war so chaotisch und anstrengend, dass Eimi gar nicht mitbekommen hatte, wie sich Vaidyam längst seinen Armstumpf verbunden hatte und sich nun Mirna schnappte. Mit seinem verletzen Stumpf hielt er sie im Würgegriff fest, während er mit der anderen Hand eine weitere Spritze aus seinem Kittel herausholte und Mirna diese injizieren wollte.
Ein Schuss aus einem Revolver fiel, der so laut war, dass es für einen Moment für komplette Stille auf dem Kampfplatz sorgte. Pecos hatte auf Vaidyams andere Hand gezielt und direkt ins Schwarze getroffen. Während ihm die Spritze aus der Hand fiel, realisierte Vaidyam, dass in seiner übrig gebliebenen Hand nun ein großes, blutendes Loch klaffte.
„Ihr verdammten Monster!“, brüllte Vaidyam und ließ Mirna los. Das Mädchen suchte gleich Schutz, indem sie sich hinter Eimi versteckte.
„Das Monster bist du!“, antwortete Ea, der sich auf ihn warf und Vaidyam zu Boden stürzte. Er saß auf seiner Brust und verpasste Vaidyam einen Faustschlag nach dem anderen.
Nun schafften es Khamal, Pecos und Tsuru, auch Andme zu überwältigen und fesseln zu lassen.
Die Krieger Vaidyams, die jetzt noch auf dem Schlachtfeld waren, waren bezwungen oder gefesselt. Pecos kam Vaidyam näher. Er deutete Eimi, dass er Ea von Vaidyam herunterziehen solle, was er auch sofort tat.
„Lass mich!“, wehrte sich Ea mit der Stimme eines kleinen Kindes.
„Es ist genug“, meinte Eimi. Er hatte erkannt, dass Vaidyam nun keine Chance mehr hatte.
„Ich sorge dafür, dass er für seine Verbrechen härter leidet, als all seine Opfer“, sprach Pecos nun in einer kühlen Stimme.
„Ich verdammten Gören!“, brüllte Vaidyam. Sein Gesichtsausdruck war gezeichnet von Verzweiflung und Wahnsinn. „Ihr werdet mich nicht von meinem Traum abhalten!“
„Oh, doch. Das werden wir“, entgegnete Pecos und sah Vaidyam streng an. Dann holte er mit seinem Revolver aus und schlug Vaidyam damit so auf die Schläfe, dass er bewusstlos umkippte.
Die Gruppe versammelte sich in der Mitte.
„Wir müssen das Lager hier sofort abbrechen“, befahl Pecos mit weiteren Anweisungen und Shin gab die Informationen an alle weiter.
„Die anderen Krieger von Vaidyam sind schon auf dem Vormarsch zur Stadt“, erklärte Khamal. „Ohne ihren Anführer werden sie die Stadt ohne Zögern angreifen und zerstören.“
„Deswegen brauchen wir Vaidyam noch lebend. Er weiß, wie man diese Fleischklopse steuert“, meinte Pecos und sah in Eas Richtung, der gerade wütend seine Arme vor seiner Brust verschränkte.
„Wer kümmert sich dann um sie?“, hakte Tsuru neugierig nach und deutete auf Mirna, die auf einem Stein saß und in die Leere starrte. „Sie kann nicht einmal mehr weinen“, fügte Tsuru in einer Lautstärke hinzu, die so leise war, dass man sie nicht hören sollte, aber laut genug, dass man es trotzdem tat.
„Wir müssen uns um sie kümmern“, meinte Eimi. „Ich habe ihr versprochen, dass sie Hilfe bekommt.“
Pecos sah Khamal fragend an. „Was ist deine Meinung?“
„Sie ist unfassbar gefährlich“, sagte Khamal. Eimi wusste, dass er durch seine Erfahrung als Doppelagent einige wichtige Dinge herausgefunden haben musste, die sie betrafen. „Aber wenn sie bei uns bleibt, können wir sie beobachten. Das wäre sicherer.“
„Also kommt sie auch mit“, befahl Pecos.
„Wir müssen uns auf zur Stadt machen“, drängte Shin. „Sonst werden wir Vaidyams Krieger nie einholen.“
„Dann los!“
Die Mitglieder der Vastus Antishal und der Schutztruppe setzten sich alle in Bewegung. Sie mussten so schnell es nur ging, die Stadt wieder erreichen, um das weitere Voranschreiten des Krieges aufzuhalten.
Als Eimi noch für einen Moment auf dem Kampfplatz verweilte und darüber nachdachte, was alles passiert war, wurde er ganz beklommen. Keiner sprach mit ihm über das Geschehene. Es war viel zu wichtig, zur Stadt zurückzukehren. Das sah er auch ein, denn er wollte so schnell es ging zurück zu Takeru und Alayna. Doch das, was auf diesem Platz passiert war, fesselte ihn. Er sah sich die Blutspritzer auf seinem Schwert an. War das der Preis dafür gewesen, Vaidyam aufzuhalten? Warum schockierte das Eimi überhaupt so sehr? Vaidyam hatte anderen Menschen so viel schlimmere Dinge angetan, als er ihm. Das war doch ein guter Tausch, oder nicht? Vaidyam konnte nun niemanden mehr verletzen. Eimi spürte, dass nun aber eine noch größere Gefahr vor ihm lag. Was war dann der nächste Schritt? Seinen Feinden das Leben zu nehmen? Dazu durfte Eimi es nicht kommen lassen.
Sein Griff festigte sich. Das Metall glänzte im Schein des Feuers. Die Blutspritzer darauf schienen wie kryptische Buchstaben zu sein, die einen einsamen Blutschwur beschrieben. Eimi wollte alle Menschen, die ihm wichtig waren, beschützen. Aber für dieses Versprechen musste es eine Grenze geben, die sich Eimi in diesem Moment setzte.
Kapitel 66 – Auf sich allein gestellt
Takeru spürte, dass sein Körper auf einen sandigen, schrägen Untergrund prallte. In dem Moment, als sein Körper auf dem Boden aufkam und wegen der Kraft des Aufpralls für eine Sekunde wieder davon abprallte, blieb ihm die Luft weg. Als er erneut zu Boden ging, rollte er den Hang einen Moment abwärts, bis er schließlich die letzten Meter schlitterte und schließlich liegen blieb. Dabei wurde ihm so schwindelig und übel, dass er sich nur taumelnd aufrichten konnte. Es dauerte etwas, bis er so viel Kraft in seinen Beinen spürte, dass er sich aufrecht halten konnte. Takeru unterdrückte dabei zwei- oder dreimal den Würgereiz, der in ihm hochstieg.
Erst jetzt, als er sich den Dreck von Armen, Beinen und Gesicht wischte, entdeckte er einige Schürfwunden, die bluteten. Dennoch fühlte er sich glücklich darüber, dass er diesen Absturz überlebt hatte. Was wäre passiert, wenn er noch tiefer gefallen wäre?
Jetzt dachte er über diese Person nach, die ihn verfolgt hatte. Wo war sie hin verschwunden? Sie war doch gerade noch in seiner Nähe gewesen. Wurde sie beim Aufprall in eine andere Richtung geschleudert? Er musste vorsichtig sein, das wusste er. Aber wie sollte er jetzt zu Alayna und Jumon zurückfinden? Die Klippe, von der sie gestürzt waren, schien ziemlich hoch und steil zu sein. Das war zumindest das, was er im Mondlicht ausmachen konnte. Was das für eine beschissene Situation war, dachte sich Takeru. Er wollte doch nichts anders machen, als etwas beizutragen. Er wollte seinen Vater finden. Er wollte das Tagebuch entschlüsseln. Er wollte den Kompass beschützen. Konnte er diese Aufgaben überhaupt noch erledigen?
Das Tagebuch schien sich komplett von allein entschlüsselt zu haben. War es nicht so? Die Anwesenheit Shianas war wahrscheinlich der Schlüssel zu diesem Geheimnis. Immer, wenn er bestimmten Leuten begegnet war, erschien ein Tagebucheintrag, der mit den jeweiligen Personen zu tun hatte. Schade nur, dass Shiana sich nicht mehr an so viel erinnern konnte, um zu erklären, was es mit dieser merkwürdigen Magie auf sich hatte. Takeru fand es auch komisch, dass sie das Buch offensichtlich nicht zurückhaben wollte. Lag das wirklich nur daran, dass sie sich nicht mehr an so viel erinnerte? Aber er an ihrer Stelle würde dann noch mehr wollen, das Tagebuch zu lesen und sich zu erinnern.
Oder hatte das Problem mit den Visionen damit zu tun? Brach der Zauber, der auf dem Buch lag, wenn sie es las? Konnte sie dann keine Bilder aus der Zukunft mehr sehen? Er fragte sich, warum sie nicht durch ihre göttliche Kraft einfach durch die Zeit reiste, um alles Schlimme ungeschehen zu machen. Dann hätte Miraa Liade vielleicht niemals den Krieg angefangen, Ea, Laan und Shiana könnten in Ruhe leben und die Welt wäre friedlich. Dann wäre wahrscheinlich auch sein Vater niemals verschwunden und er hätte niemals auf die Suche nach ihm gehen müssen. Nichts von alldem wäre passiert, wenn sie dieses Problem in der Vergangenheit lösen konnte. Aber wenn es ginge, wäre es nicht schon längst passiert? Wäre der Knoten, in dem Vergangenheit und Zukunft ineinandergeflochten war, dann überhaupt existent? Gäbe es das Jetzt? Takeru machte sich so viele Gedanken darüber, dass er sich den Kopf hielt, auch weil er Kopfschmerzen hatte. Er wusste nichts über diese Geheimnisse, jedoch wusste er, dass er diese aufklären wollte.
Er ging einige Schritte, um herauszufinden, wie er auf die Anhöhe zurückkommen konnte. Dabei versuchte er so leise wie möglich zu sein; falls ihn die andere Person doch fand, würde sie ihn sicherlich weiter jagen. Glücklicherweise hatte der Kompass in seiner Tasche aufgehört zu leuchten, das machte seine Situation leichter. Warum um alles der Welt hatte er plötzlich angefangen zu leuchten? Er hatte sich doch nicht so darauf konzentriert, wie das letzte Mal, als er ihn erfolgreich verwenden konnte. Oder – und da beschlich ihn eine merkwürdig sichere Vermutung – hatte nicht er den Kompass verwendet, sondern wer anders? War es immer Laan gewesen, der mit dem Kompass reagiert hatte? Konnte das sein? Das eine Mal, als Ea ihm den Kompass weggenommen hatte, um Laan zu finden, war es vielleicht auch Laans Einfluss gewesen. Als sie vorher in der Wüste Laan und Ea gefunden hatten, die kämpften, hatten sie dadurch die Höhle finden können, in der ihr Vater war. Es konnte gut möglich sein, dass er selbst niemals den Kompass steuerte, sondern dass der Kompass immer wieder zu Laan zurückfinden wollte.
Zumindest konnte er froh darüber sein, dass er seinen Vater gefunden hatte. Endlich. Doch irgendwie hatte er bei dieser Sache ein ganz merkwürdiges Gefühl. Es war wie ein Beigeschmack, der nicht zu definieren war. Er hatte es geschafft, doch er spürte, dass es noch ein Geheimnis dabei gab, das er noch nicht benennen konnte. Außerdem fühlte es sich schrecklich an, nun wieder von seinem Vater getrennt worden zu sein. Deswegen blieb ihm nur noch eines: seinen Vater damit stolz zu machen, dass er den Kompass in Sicherheit brachte. Dieses mächtige Artefakt musste um jeden Preis beschützt werden. Vielleicht konnte er Laan finden und ihm den Kompass wiedergeben, sodass er stärker wurde? Oder war es besser, ihn zu behalten und selbst herauszufinden, wie man dessen Macht benutzen konnte?
Ein Stein rollte von irgendwo herunter und Takeru zuckte zusammen. Er erstarrte, um kein Geräusch zu machen und lauschte. Er hörte etwas knacken, etwas rascheln und wieder einen Stein, der auf einen anderen Stein fiel. Die Geräusche schienen jedoch aus jeweils anderen Richtungen zu stammen. Er holte einmal tief Luft und lauschte weiter. In völliger Stille verharrend versuchte er herauszufinden, woher die Geräusche kamen. War die Person, die ihn verfolgt hatte, doch wieder auf seiner Fährte? Leise setzte er einen Schritt vor den anderen, immer noch auf der Suche nach einer Chance, auf das obere Plateau zu gelangen, um dort nach Alayna und Jumon zu suchen.
Da war wieder ein Knacken. Diesmal war es jedoch begleitet von einem Schatten, von dem Takeru dachte, er würde an ihm vorbeihuschen. Er drehte sich in alle Richtungen, um etwas zu sehen. Mittlerweile hatten sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt. Sie wurden nicht mehr von dem Licht des Kompasses geblendet und er konnte nun die Umgebung viel besser sehen. Der Schatten schien um ihn herumzuschleichen, er war mal hier und mal dort. Das machte ihn nervös. Nun versuchte er schneller voranzugehen, immer noch ohne Ahnung, wo es hinging. Er war dabei, sich zu verlaufen, doch das war ihm egal. Hauptsache er bewegte sich und blieb nicht an der Stelle stehen. Er dachte, in Bewegung zu bleiben, erhöhte die Chance, nicht gefunden zu werden. Das war ein Trick, den er als Kind beim Versteckspiel immer verwendet hatte, um nicht entdeckt zu werden. Vielleicht wirkte dieser Trick auch nun.
Er ging weiter. Doch die Geräusche ließen nicht nach. Was wollte diese Person überhaupt von ihm? Woher wusste sie, dass er den Kompass dabeihatte und es sich nicht etwa um eine Taschenlampe handelte? Wenn er dachte, es wäre eine Taschenlampe, was wollte er dann von ihm? Takeru wurde immer nervöser und paranoider.
Dann blitzte etwas im schwachen Mondlicht neben ihm auf. Es war etwas Glänzendes, das an einer schattenhaften Figur hing. War es die Person? Takeru drehte sich um und versuchte einen Ort zu finden, an dem er sich verstecken konnte. Jedoch war neben ihm die steile Klippe, an der er entlanglief. Er konnte keine Höhle oder Kuhle ausmachen, in der er sich verstecken könnte. Auf der anderen Seite eröffnete sich ein offenes Plateau, auf dem er sofort entdeckt werden konnte, wenn er darüber lief. Was sollte er tun?
Mittlerweile fing sein Herz an, stärker zu pochen. Er hasste es, in dieser brenzligen Situation zu stecken, denn er konnte nichts dagegen machen.
Er war auf sich allein ge…
Plötzlich wurde er umgestoßen. Mit voller Gewalt wurde sein Körper zu Boden gebracht und er schlitterte auf dem harten Untergrund noch einige Zentimeter. Die Silhouette stellte sich als Person heraus, die auf ihm lag und sich langsam aufrichtete. Die Person war etwas größer als er und trug helltürkisene Zöpfe. Die Person trug enganliegende Kleidung, Stiefel und an Schultern und Armen waren Protektoren aus Metall, die im Mondlicht glänzten. Sie hatte zwei Dolche in der Hand und einen unfassbar gemeinen Gesichtsausdruck.
„Gefunden“, flüsterte die Person und heulte danach wie ein Wolf. Es war die Person, die ihn verfolgt und nun endlich gefunden hatte.
Takeru robbte rückwärts von der Person weg, gleichzeitig suchte er auf dem Boden nach etwas, mit dem er kämpfen konnte, ein Ersatz für eine Waffe. Er fand nichts.
Schnell richtete er sich auf, sah sich noch einmal um, schätzte ab, ob es irgendeine Fluchtroute gab, doch es schien vergebens. Wohin sollte er denn überhaupt fliehen?
Die Mundwinkel der Person verschoben sich zu einem wütenden Grinsen. Dabei lief ein Speichelfaden aus ihrem Mund, den sie mit dem linken Handrücken abwischte. Mit der anderen Hand deutete sie, dass er kommen und kämpfen sollte.
„Was soll das, wer bist du überhaupt!?“, forderte Takeru zu wissen.
„Kämpfe mit mir, kleiner Mann“, grinste sie und spielte nervös mit ihren Dolchen in ihren Händen herum. „Ich habe dich ausgewählt, mit mir zu kämpfen. Ich bin Lunja. Jeder, der durch meine Hand stirbt, erfährt meinen Namen.“
Wie merkwürdig war es, dass sie sich vorstellte? Aber der Name kam ihm bekannt vor, er wusste im Moment nur nicht woher. Halt, was? Hatte sie gerade davon gesprochen, dass er sterben würde? Oh, nein, das konnte er nicht zulassen!
„Halt, halt, halt“, stammelte Takeru und hob verteidigend seine Hände, während er versuchte, langsam einen Schritt nach dem anderen zu gehen. „Du musst da etwas missverstehen. Ich und sterben? Das geht nicht!“
Anstatt zu antworten, wirbelte Lunja ihre Dolche in ihrer Hand und kam dabei langsam einen nach dem anderen Schritt näher.
„Was willst du denn überhaupt von mir?“, versuchte Takeru sie zu überzeugen. „Ich bin ein Kind. An mir ist nichts dran, kein Fleisch, kein Fett, kein Garnichts!“
Nun heulte Lunja wieder wie ein Wolf und er zuckte dabei zusammen.
„Du musst sicherlich jemand anderes meinen“, verteidigte sich Takeru und hob seine Hände wieder. „Ich bin unschuldig.“
„Unschuldig?“, wiederholte Lunja. Ihr Gesichtsausdruck schien sich von der einen auf die andere Sekunde zu verändern. Nun wirkte sie noch wütender als gerade schon. „Kinder sind nicht unschuldig.“
„Wenn du schon mit mir kämpfen willst, dann doch wenigstens fair, oder nicht?“, wollte er sie überzeugen. „Du siehst, ich habe keine Waffen, nur meine Fäuste.“
Sie fing nun an, um ihn herumzulaufen. Ihre Zunge leckte über ihre Zähne. Das Ganze gab Takeru ein unangenehmes Gefühl. Sie ging in die Hocke und steckte ihre Dolche in den Boden.
„Ich war auch nicht unschuldig“, sprach sie von sich und verharrte für einen kurzen Moment.
Da fiel es Takeru ein, woher er ihren Namen kannte. Toni hatten ihn erwähnt, als er erklärt hatte, wer alles für Miraa Liade kämpfte. Sie war eine der Personen, die direkten Kontakt mit ihm hatte und Befehle annahm. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Was sollte er denn jetzt machen? Einen Faustkampf anfangen, den er nicht gewinnen konnte? Sie war offensichtlich größer und stärker als er. Ihr Auftreten versicherte ihm, dass sie in Kampftechniken trainiert worden war. Was war also der Schlüssel dazu, aus dieser Situation zu entfliehen? Es musste irgendetwas zu bedeuten haben, von was sie sprach.
„Ich glaube, dass …“, doch bevor Takeru weitersprechen konnte, sprintete sie los und warf sich auf Takeru. Der Versuch, auszuweichen, scheiterte und wieder wurde er zu Boden gerissen. Diesmal versuchte er jedoch, die Energie des Sturzes so zu nutzen, dass er sich in Bewegung hielt. So nahm er seine Kraft zusammen und gemeinsam rollten sie über den Boden. Sie hatte nach seiner Weste gegriffen, während er versuchte, sich an ihren Klamotten festzuhalten. Er bemerkte Lederriemen, die ihren Gürtel und ihre Protektoren verband und hielt sich an denen fest. Mit seinem ganzen Gewicht stemmte er sich nun weg von ihr und beide rangelten am Boden. Trotzdem schaffte Lunja es, die Oberhand zu gewinnen und saß auf seiner Brust. Ihre Knie fixierten seine Oberarme. Ihr Gewicht drückte auf seinen Körper und kurz bekam er keine Luft. Sich mit seinen Händen zu befreien, schien unmöglich, deswegen kickte er mit seinem rechten Knie in ihren Rücken. Sie erschrak und dabei wurde sie für einen kurzen Moment leichter. Er zog seinen linken Arm heraus und schlug ihr mit voller Kraft in den Bauch. Takeru wusste, dass er nicht viel Kraft hatte, doch schien sein Schlag eine Stelle getroffen zu haben, die ihr Schmerzen bereitete. Lunjas Gesicht verzog sich schmerzverzerrt. Diese kurze Ablenkung nutzte Takeru aus, um sich mit seiner ganzen Kraft hochzustemmen und so konnte er sich von ihr befreien.
Er wusste, dass er nicht lockerlassen durfte, also holte er mit seinem Bein aus und wollte sie treten. Doch Lunja schien mit einem Gegenangriff gerechnet zu haben, wich aus und trat ihn selbst mit voller Kraft in den Magen. Takeru hielt sich den Bauch und schrie vor Schmerz auf, als er nach hinten taumelte. Es war ihm für einen kurzen Moment schwarz vor Augen geworden. Lunja schien das wirklich ernst zu meinen.
„Du bist nicht unschuldig“, wiederholte sie mantraartig.
„Was soll das bedeuten!?“, wunderte er sich und machte sich bereit, wahrscheinlich wieder einen Tritt oder Schlag verpasst zu bekommen. Wie lange konnte er das aushalten?
Zwei weiteren Tritten konnte er ausweichen, doch der nächste Schlag, der ihn an der Schulter traf, brachte ihn ins Taumeln. Für einen Moment passte er nicht auf und Lunja zog ihm die Füße vom Boden. Takeru konnte sich abrollen, bevor sie ihn wieder auf dem Boden fixierte. Zwischendurch versuchte er etwas Abstand zu ihr zu gewinnen, indem er von ihr weglief. Das schien jedoch nichts zu bringen.
Allmählich war er nicht nur außer Atem, sondern auch ziemlich wütend. Er war so wütend darüber, dass er sich in dieser Situation befand. Die Stimme in seinem Kopf, die ihm selbst vorwarf, warum er so stur war und den Kompass mitnehmen musste, wurde dabei immer lauter. Takeru war stinksauer und wütend auf sich selbst.
‚Warum hast du nicht auf Papa gehört?‘, sprach er mit sich selbst.
‚Aber ich wollte doch etwas beitragen!‘
‚… ja, dass du den Kompass gleich an sie verlieren wirst, ist dein Beitrag.‘
‚Nein, ich schaffe das, ihn zu beschützen!‘
‚Und wie? Du bist viel zu schwach! … schwach … schwach …‘
Takeru biss sich auf die Zähne, seine Augen füllten sich mit Tränen. Es tat ihm so weh. Der stechende Schmerz in seiner Brust schnürte ihm nun auch den Hals zu. Verdammt noch eins, was hatte er da nur getan?
Lunja ließ nicht locker. Als nächstes fing sie damit an, ihm einen Faustschlag nach dem anderen zu verpassen, die Takeru mit überkreuzten Armen zu blocken versuchte. Das Grinsen, das sie dabei auf dem Gesicht trug, war unheimlich, fast schon besessen.
„Du bist schuld!“, warf ihm Lunja vor, deren Wahnsinn sich in ihren Augen spiegelte, denen jeder Glanz fehlte.
„Bin ich nicht!“, wehrte sich Takeru. Was waren das nur für traurige Augen? Von was sprach sie?
„Du bist schuld!“
„Nein!“, entgegnete Takeru fast kindlich. Das wiederholte sich so lange, bis sich Lunjas Stimme und seine innere Stimme abwechselten. Er durfte nicht schuld sein, denn er war doch derjenige, der geholfen hatte. Er war derjenige, der seinen Vater gefunden hatte und er war derjenige, der so viel Gutes getan hatte.
Oder …
Oder waren das alles Zufälle gewesen? War das gar nicht seine Leistung, sondern …?
Takeru fing an, an sich zu zweifeln. Er wollte das nicht glauben und er wollte nicht schuld sein. Das, was er wollte, war, den Kompass zu beschützen und ihn zu Laan zu bringen, damit Miraa Liade aufgehalten werden konnte.
Mit jedem Schlag, den Takeru irgendwie abzufedern versuchte, bebte eine weitere Welle des Schmerzes durch seinen Körper. Lange hielt er das nicht aus. Ein Gedanke, den er noch klar fassen konnte, hallte durch seinen Kopf. Es schien so, als würde Lunja nicht ihre volle Kraft verwenden. Die Schläge waren schmerzhaft, jedoch machte sie den Eindruck, als würde sie sein Leid etwas hinauszögern wollen. Aber warum? Er musste etwas ausprobieren. Bei dem nächsten Schlag duckte er sich und wurde daraufhin mit einem Tritt wieder umgeworfen. Statt sich aber auf ihn zu stürzen, gab Lunja ihm die Möglichkeit wieder aufzustehen, damit sie ihre Angriffe fortsetzen konnte. Das wiederholte Takeru mehrmals, um sich seiner Theorie sicherzugehen.
Das Denken fiel ihm immer schwerer, jedoch wurde dabei seine Beobachtung klarer: Lunja wollte, dass der Kampf lange und schmerzhaft wurde. Sie schien ihn in erster Linie nicht besiegen und den Kompass stehlen zu wollen. Das passte auch irgendwie mit den Beschuldigungen zusammen, die sie von sich gab. Aber warum wollte sie, dass er litt?
Wieder wechselte Lunja von Tritten zu Schlägen und sah genussvoll zu, wie sich Takeru vor Schmerz mittlerweile krümmte. Sein ganzer Körper pochte. Es schien, als würde sein Herzschlag nun so stark sein, dass er bis an die Oberfläche seiner Haut reichte. Er bekam schlechter Luft und schnappte immer und immer öfter nach ihr. Lange würde er das nicht mehr aushalten.
Jetzt, wo er wusste, wie sie kämpfte, musste er diesen Rhythmus nur unterbrechen.
Wieder zwei Schläge von links. Aber wie konnte er sie unterbrechen, wenn sie einfach überlegen war? Ein Haken von unten traf ihn in den Bauch. Seine vom kalten Schweiß nassen Haare klebten in seinem Gesicht.
Ein Tritt von der Seite traf ihn am Oberschenkel, es brannte. Die Schläge waren nicht stark genug, ihn auszuknocken. Aber sie waren so stark, dass er Schmerzen verspürte. Ein Stakkato von Schlägen lähmte sein Gefühl im rechten Arm. Für einen Moment sah er vor sich ein schwarzes Meer. Die dunklen Wellen schlugen auf seinen Körper ein und umspülten ihn. Ein frontaler Tritt brachte ihn ins Taumeln und er versuchte seinen festen Stand wiederzufinden, als er sich von ihr wegbewegte.
Der letzte klare Gedanke, den er hatte, bevor es passierte, war von Empathie erfüllt. Hatte sie auch Schmerzen? Was bereitete ihr Leid? Der Glanz in ihren Augen war verloren. Da musste er an Toni denken, der sich Miraa angeschlossen hatte, weil die Last eines ganzen Volkes auf seinem Rücken ruhte. Er nahm den ganzen Schmerz auf sich, weil er damit sein Volk zu retten versuchte. Was war Lunjas Beweggrund? Hatte sie auch so ein Ereignis, eine Familie, um die sie sich sorgte? Die Leere in ihren Augen verriet ihm, dass es tiefer saß. Irgendetwas steckte in ihr fest. Doch er kam nicht heran, denn das, was er in ihren Augen für einen Moment aufblitzen sah, war er selbst, der in einem unendlich großen schwarzen Meer schwamm.
Da begann es, dass sein Bewusstsein wegdriftete. Die Wellen, die ihn umspülten, waren von einer Kraft gefüllt, die ihm bekannt vorkam. Er spürte, dass sich das Wasser erwärmte.
Wieder hallte die Stimme, die nun ferner klang, und ihm vorwarf, dass er all diese Sachen getan hatte, warum er so schwach war und warum er es nicht schaffen würde, alle zu retten.
Beim Versuch, gegen diese Stimme anzuschreien, blieb ihm der Atem weg, weil es sich so anfühlte, als würde die Schwärze wie mit starken Wellen umgeben. Je tiefer er fiel, desto heißer wurde alles um ihn herum.
Er war so wütend. Als er wütender wurde, verwandelte sich das Wasser um ihn in schwarze Flammen. Es war diese Energie, an die er sich plötzlich so klar erinnern konnte. Diese Energie, die ihm schon damals auf dem Friedhof alle Sinne genommen hatte. Wenn er sie jetzt freiließ, wusste er, würde etwas Schlimmes passieren.
Doch diesmal war eine Sache ganz anders.
Es war ein kleiner Gedanke, den er festhielt.
‚Geht es ihr genauso wie mir?‘, sprach er in seinen Gedanken aus. Es war aber nicht Mitleid, sondern diese eine Sache, die ihn seine ganze Reise über schon antrieb, die ihm jetzt half. ‚Dann kann ich ihr helfen.‘
Diese Energie, die kurz davor war, explosiv aus ihm herauszubrechen, wandte sich nun nicht von ihm ab, sondern ging in ihn hinein.
Beim nächsten Blinzeln sah er sich wieder auf dem Boden stehen. Lunja war gerade dabei, auf ihn loszustürmen, als er verteidigend seine Arme nach vorne stieß. Dabei sah er, dass seine Arme in schwarzen Flammen standen, deren Energie sich zu einem Strahl bündelte, der Lunja von ihm wegschleuderte, obwohl er sie noch nicht kontrollieren konnte.
Lunja richtete sich wieder auf und fing an, einfach lauthals zu lachen. Was auch immer das sollte, es konnte nichts Gutes bedeuten. Nun musste Takeru sich wappnen. Das konnte nur bedeuten, dass der richtige Kampf nun anfing.
Sie rannte auf ihn zu und fing wieder damit an, ihn zu schlagen und zu treten. Manche dieser Angriffe konnte er blockieren und ablenken. Es brauchte etwas Zeit, wieder diese Energie in eine Richtung freizulassen, um Lunja damit zu treffen.
Takeru wollte so gerne etwas sagen, um sie zu überreden, mit dem Kämpfen aufzuhören, doch alles, was er versuchte, war bedeutungslos. Ihr leerer Blick wurde immer schlimmer. Sie sah schon oft gar nicht mehr in seine Richtung, sondern schien schon so in einem blinden Wutanfall zu sein, der nicht mehr aufzuhalten war. Speichelfäden hingen aus ihrem Mundwinkel.
Takeru wollte nicht aufgeben. Er wusste jedoch, dass das, was sie dazu brachte, so wütend zu sein, sehr schmerzhaft sein musste. Vielleicht hatte Miraa ihr Sachen versprochen, mit denen es ihr besser gehen sollte. Vielleicht handelte sie aus Rache. Wahrscheinlicher war aber, dass sie sich selbst schon vor langer Zeit verloren hatte.
Dann sprang sie plötzlich etwas in die Luft, täuschte einen Angriff an, den sie nutzte, um mit einem Tritt abzulenken. Takeru, der durch den angetäuschten Angriff einen Schritt in die falsche Richtung machte, wurde am Kopf mit voller Wucht von ihrem Tritt getroffen. Das schleuderte ihn einige Meter zur Seite. Der kurze Moment, in dem ihm schwarz vor den Augen wurde, reichte, um die freigesetzte Energie verschwinden zu lassen. Die schwarzen Flammen erloschen und schleuderten ihn zur Seite.
Er sah alles in Zeitlupe ablaufen, als in jenem Moment durch den Stoff seiner Kleidung ein greller, grüner Lichtstrahl von seinem Kompass aus in die Luft schoss. Das Licht schien mitten in der Luft stehen zu bleiben. Von einem Punkt aus bildete sich ein leuchtendes Gitternetz, das langsam die Form einer Tür bildete. Das konnte nur eines bedeuten.
Als Takeru mit voller Wucht auf dem Boden aufkam, entwich jegliche Kraft aus ihm und er konnte sich nicht abfedern. Er rollte über den steinigen Untergrund und hatte kaum mehr Energie dazu, vor Schmerz zu schreien. Doch anscheinend musste er sich keine Sorgen mehr machen. In diesem Augenblick öffnete sich die leuchtende Tür und Laan trat heraus. Es sah so aus wie damals, als Ea mit dem Kompass die erste Tür geöffnet hatte, um ihn zu befreien. Er hatte Laan gefunden. Endlich.
Lunja wandte sich zu der neuen Person, die auf dem Kampffeld erschienen war und wirkte so, als würde sie sich gar nicht darüber wundern. Um Laans Fäuste bildeten sich leuchtende Gitterboxen, nachdem er sich umsah und die Situation abcheckte. Er schien zu wissen, was vor sich ging. Als Lunja ihre Angriffe fortsetzte, blockierte Laan jeden dieser Angriffe mit seinen Fäusten. Die Frau ließ jedoch nicht locker und griff unentwegt an. Laan konterte und so ging es eine Weile hin und her. Fasziniert sah Takeru zu, wie Laan kämpfte.
Geschickt wich er immer und immer wieder aus. Seine linke Faust fing an, stark zu leuchten und als er ihr damit in die Magengegend schlug, schwebte sie für einen kurzen Zeitraum in der Luft, bis die Kraft, die er freisetzte, sie in einer spiralförmigen Bewegung in die Luft schleuderte. Mit einer kleinen Handbewegung erzeugte er grün leuchtende Gitternetzflächen in der Luft, deren Flächen wie Treppenstufen funktionierten. Er sprang abwechselnd auf eine und folgte Lunja somit in die Luft. Sie hatte sich dort oben neu positioniert und nahm offensichtlich all ihre Kraft zusammen, um den Schwung des Falles für einen kräftigen Schlag zu verwenden. Laan ballte seine rechte Faust, die nun auch zu leuchten anfing. Als sich beide Fäuste in der Luft trafen, blieb für Takeru wieder für eine Sekunde die Zeit stehen. Die leuchtende Kraft, die von Laan zu kommen schien, war so mächtig, dass es Lunja in die nahegelegene Felswand schleuderte. Der Aufprall war so stark, dass sich einige Felsen lösten und die Frau unter sich begruben.
Stille kehrte ein, als sich die letzten Felsbrocken und Steine nicht mehr bewegten. Takeru hörte nur noch sein eigenes, schweres Schnaufen. War der Kampf vorbei?
Sanft landete Laan wieder auf dem Boden. Als er mit seinen Füßen aufkam, machte er dabei kaum ein Geräusch. Er sah auf den Steinhaufen, für einen längeren Moment, wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass seine Gegnerin unter dem Felsen begraben war. Dann ging er zu Takeru.
Er streckte dem Jungen die Hand hin. Takeru tat es ihm gleich, doch anscheinend wollte Laan ihm nicht hochhelfen.
„Gib mir den Kompass“, sagte er kühl. Dabei fiel Takeru das violette Tattoo in seinem Gesicht auf und die Linie, die sich durch seine Iris zog. „Gib ihn mir jetzt.“
„Halt, nein“, meinte Takeru und half sich selbst aufzustehen. Er war ziemlich wackelig auf den Beinen, deswegen machte er sich keine Mühe, sich den Dreck von den Klamotten abzuklopfen.
„Du musst ihn mir geben“, verlangte Laan nun etwas strenger.
Takeru wollte ihm den Kompass geben, doch noch nicht jetzt. Ein Gefühl stimmte ihn plötzlich um, es gab Chancen, wie er den Besitz des Kompasses noch etwas für sich nutzen konnte. Vielleicht schaffte er es, Laan umzustimmen und ihn zu seinem Vater und Shiana zu bringen. Die konnten ihm sagen, dass er den Kompass für den Kampf gegen Miraa benutzen sollte, um sein ganzes Potential freizusetzen. Er hatte eine Idee. Sie war zwar etwas egoistisch, aber vielleicht auch gut durchführbar.
„Ich kann dich zu Shiana bringen“, sprach Takeru.
Laans Gesicht zeigte Überraschung.
„Ich habe sie getroffen, ich weiß, wo sie ist“, erklärte er weiter. „Sie hat lange nach dir gesucht.“
Jetzt hatte Takeru vergessen, dass Alayna und Jumon wahrscheinlich nach ihm suchten. Der Gedanke, den er fest in sich trug, war, zurück zu seinem Vater zu kommen. Er wollte nicht von ihm fortgeschickt werden. Jetzt aber, wenn er Laan mit sich nahm und ihm dann den Kompass überreichte, damit er wieder zu einem mächtigen Gott werden konnte, dann durfte er doch sicherlich wieder bei seinem Vater sein, richtig?
Ein Schmerz fuhr ihm durch seinen Körper und er zuckte kurz zusammen, wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
„Wo ist sie?“, fragte Laan. Er hatte einen ganz anderen Gesichtsausdruck angenommen, als Takeru bisher von ihm gesehen hatte. Er war nun viel weicher und schon fast freundlich.
„Nimm mich mit, dann zeige ich sie dir“, forderte Takeru und holte dabei den Kompass aus seiner Tasche. Er streckte seine Hand mit ihm so aus, dass Laan sie greifen konnte. Als sich beide Hände berührten, fing der Kompass an zu leuchten. Einzelne Lichtstrahlen strahlten zwischen den Fingern der beiden in alle Himmelsrichtungen. Laan griff mit seiner anderen Hand in die Leere der Luft und schien einen unsichtbaren Türknauf in der Hand zu halten. Dann öffnete er eine Tür.
„Zeig mir den Weg“, bat Laan.
„Werde ich“, antwortete Takeru.
Dann schritten sie hindurch.