Geschichten über Horizon

Bei den Geschichten über Horizon handelt es sich um Kurzgeschichten über einen Jungen namens Horzion und dessen Leben.

Ursprünglich sollte die Geschichte bei „the end of the horizon“ bleiben, jedoch verfasste ich zwei weitere Kurzgeschichten, die mehr über diesen besonderen Charakter erzählen.

the end of the horizon

the beginning of the horizon

still, the horizon hasn’t moved at all



 the end of the horizon

‚Diesen Geschmack werde ich nicht mehr los…‘, dachte ich mir und spielte mit der Zunge an der blutigen Wunde meines Zahnfleisches herum.
Ich hasste den Geschmack von Blut, seit ich mich an ihn erinnern konnte. Mein Name ist Horizon, 17 Jahre alt und Schüler. Ich wohne nicht mehr bei meinen Eltern. Als meine Großmutter kürzlich verstorben ist, hat sie mir ihre Wohnung vermacht. Sie meinte, zum Erwachsen Werden gehöre ein gewisser Grad an Selbstständigkeit dazu, den sie mir somit schaffte. Miete brauchte ich nicht zahlen – die Wohnung war gekauft – Strom, Wasser und Lebensmittel lassen sich aber nicht ohne Kohle nicht zahlen, also jobbte ich, während ich zur Schule ging. Es war stressig, muss ich zugeben, aber es lohnte sich, so seine Freiheiten zu haben.
So schnappte ich mir das Telefon und war kurz davor den Zahnarzt anzurufen. Doch in dem Moment, als ich meine Finger auf den Hörer legte, fing es auch schon an zu Klingeln.
>>Alles Gute zum Geburtstag!<<, brüllten meine Eltern und mein jüngerer Bruder ins Telefon.
„Vielen Dank“, bedankte ich mich, doch innerlich seufzte ich.
>>Komm doch bitte noch vorbei, wir haben Kuchen für dich<<, bat mich meine Mutter.
„Ist es um 4 Uhr in Ordnung?“
>>Klar<<
„Ich bringe vielleicht Chi mit, wenn das in Ordnung ist…“
>>Er ist herzlich eingeladen<<
„Gut, dann bis…“
>>Ich freu mich schon, wenn du mein Geschenk auspackst, großer Bruder!<<, brüllte mein kleinerer Bruder noch ins Telefon.
„Bis später…“, verabschiedete ich mich und legte auf. Chi, dessen richtiger Name eigentlich Chi Hei Sen war, war mein bester Freund, seitdem wir uns in der Grundschule anfreundeten. Er kam mit seinen Eltern aus China.
Ich seufzte vor mich hin. Ja, es war mein Geburtstag. Eigentlich wollte ich ihn komplett ignorieren, doch ich schaffte das nicht. Nicht mit einer Verwandtschaft die einen ständig anrufen musste und… Innerlich gab ich schon wieder auf, jeglichen Gedanken der damit zu tun hatte fortzusetzen. Es war noch morgens, also ging ich ins Bad und duschte erst einmal. Das Wasser war kalt und ich bekam Gänsehaut. Leider dauerte es etwas, bis es sich erwärmte, hatte mit diesem alten Haus zu tun, aber nach einigen Malen gewöhnte man sich einfach daran. Nachdem ich fertig war, stieg ich aus der Duschkabine, schlang mir ein Handtuch um die Hüften und putzte mir die Zähne. Das Wasser perlte vom beschlagenen Spiegel. Ich hatte das Fenster geöffnet um den Wasserdampf, der in meinem Badezimmer gefangen war, frei zu lassen. Das Wasser perlte vom beschlagenen Spiegel. Es sah so aus, als würde mein Spiegelbild weinen. Ich starrte es an, während ich schon fast rhythmisch meine Zähne putzte.
‚Hoch und Runter, immer schön im Kreis, so werden Zähne strahlend weiß!‘, dachte ich mir.
Der Schaum in meinem Mund immer mehr, bis ihn nicht mehr halten konnte. Ich stieß mit meinem Kopf nach vorn, schlucken wollte ich diesen minzigen Schaum auf gar keinen Fall, deswegen spuckte ich ihn in das Waschbecken. Mit der linken Hand drehte ich den Wasserhahn auf, spülte einmal meinen Mund und putzte den Schaum von meiner Zahnbürste, die danach in den Becher gestellt wurde, in dem man die Zahnbürsten normalerweise hineinstellt.
Es klingelte. Wer konnte das nur sein? Schnell rubbelte ich meine schwarzen Haare so gut es ging trocken und wagte mich zögerlich zur Haustür. Es klingelte ein zweites Mal. Ich wollte die Tür nicht öffnen, also blickte ich durch den Spion.
„Das war doch so klar“, sprach ich zu mir selber, als ich den Breit grinsenden Chi mit einer Pralinenschachtel in der Hand vor meiner Tür stehen sah.
„Mach schon auf! Sonst gibt’s Klingelterror!“, drohte er mir durch die geschlossene Tür und drückte wie ein Wilder ständig auf die Klingel.
„Ja ja! Komm schon rein“, begrüßte ich ihn in einem mürrischen Ton und öffnete ihm die Tür.
„Alles Gute, mein Bester!“, stürmte er rein, drückte mich und hielt mir die Pralinenschachtel vor das Gesicht, „Die teuren, wie du sie am liebsten magst!“
Gut, man denkt sich nun vielleicht, man schenkt nur dem Partner oder dem, beziehungsweise der Geliebten Pralinen, aber ich wurde einfach schwach bei dem Anblick dieser kleinen Meisterwerke und dem Gedanken, wie sie ihren vollen, schokoladigen Geschmack auf meiner Zunge entfalteten und eine Menge, ja eine gar riesige Menge an Endorphinen in mir freisetzten.
„Vielen Dank, willst du etwas zu…“
Zu spät, bevor ich ihm überhaupt etwas anbieten konnte, stand er schon längst in meiner Küche und trank ein großes Glas meiner Milch.
„Du bist ja noch gar nicht angezogen“, prustete er, „Pass auf, dass dein Handtuch sich nicht selbstständig macht.“
Zugegeben, mir wäre das ihm gegenüber egal, ob er mich nackt sehen würde oder nicht. Der Begriff „beste Freunde“ war wirklich ein dehnbarer Begriff. Nein, nicht dass ihr denkt wir wären ein Paar, auf keinen Fall. Aber mit besten Freunden macht man doch schon einiges durch. Gemeinsam ließen wir das Kind sein hinter uns.
„Was steht heute an?“, fragte er mich und wischte sich seinen Milchbart weg. Er war etwas kleiner als ich, hatte rotbraune Haare und war etwas schlanker als ich. Früher war er größer als ich, doch als wir 12 wurden, schoss ich etwas in die Höhe. Gut er holte nach, doch ich war immer noch größer als er.
„Meine Eltern haben mich um 4 zum Kuchen essen eingeladen. Wenn du willst, kannst du mit“
„… und bis dahin? Heute ist Samstag …“
„Ich wollte fernsehen …“
„Okay, geht klar!“, sagte er, warf seine ausgezogenen Schuhe in den Gang. Danach nahm er sich etwas zu Essen aus dem Kühlschrank und ging ins Wohnzimmer.
„Ich geh mich mal schnell noch umziehen …“, rief ich ihm hinterher.
Es kam nur ein leises „Ist OK“ zurück. Das Schlafzimmer lag in der anderen Richtung. Ich öffnete die Tür und zog eine Unterhose und die Klamotten heraus und zog mich um. Das war doch mal wieder typisch Chi. Macht Dinge ohne zu Fragen und nimmt sich Freiheiten, ohne dass man sie ihm gegeben hat, oder erlaubt. Aber so war es schon immer gewesen. Ich gewöhnte mich schnell daran. Ach was, ich gewöhnte mich gar nicht daran! Innerlich regte ich mich immer noch genauso auf wie früher.
Ich ging wieder in die Küche und kramte aus einer der hängenden Schränke eine kleine Schüssel heraus und füllte sie mit Kornflakes und Milch. Seufzend nahm ich mir dann noch einen Löffel aus der Besteckschublade. Dann schlenderte ich ins Wohnzimmer und setzte mich neben Chi auf das Sofa. Mein Wohnzimmer. Es war nichts besonderes, aber ich fand es war besonders. Zunächst hatte ich einen großen Fernseher. Den hat mir mein Vater geschenkt und meinte, damit wäre ich nicht so allein. Der Stand in einem Regal, in dem ringsum Bücher in die Fächer gestapelt waren. Glück, dass ich zwischen den ganzen Comics überhaupt noch Platz für normale Bücher gefunden hatte. In der Ecke neben dem Fenster stand eine große Zimmerpflanze, die nur selten gießen musste. Wenn es um so etwas ging, war ich schon immer leicht vergesslich. Unter dem Sofa und dem gläsernen Wohnzimmertisch war ein kleiner blauer Teppich. Der hielt die Füße wärmer als der Parkettboden. Gut, ich muss zugeben, dass das mir eigentlich egal war, da ich meine Füße immer auf dem Sofa oder dem Wohnzimmertisch hatte. Das große Fenster war von schlichten, weißen Vorhängen geschmückt, aufgehängt von meiner Mutter. Neben dem Sofa befand sich noch ein Sitzsack, den ich früher, als ich noch mit meinem kleinen Bruder in einem Zimmer leben musste, geteilt habe. Ein nettes, gemütliches Wohnzimmer also.
„Schalt doch um“, bat ich Chi.
„Aber schau dir mal an, wie die Streiten!“, lachte er, während er einen Muffin kaute.
Er hatte die Vorliebe gern Talkshows ansehen zu müssen. Ich verstand einfach nie, was er daran fand. Ob die mit dem, oder der mit einer anderen geschlafen hatte, das interessierte doch gar keinen! Bis auf Chi.
„Jetzt schalt doch endlich um, du weißt ich schaue gern meine Cartoons…“
Ich betonte das „gern“ etwas stärker und warf ihm einen mürrischen Blick zu.
„Na gut… weil du heute Geburtstag hast“, gab er endlich nach.
Musste er mich daran erinnern? Na vielen Dank. Er gab mir die Fernbedienung und ich schaltete auf den Kanal, auf dem Morgens immer die Cartoons liefen. Ich liebte es, sie zu schauen. Ich genoss es, es war lustig und unterhaltsam und erinnerte mich an eine freie Kindheit – bis zu meinem 13. Geburtstag. An diesem Tag war natürlich die ganze Verwandtschaft eingeladen. Alle kamen, aber einer ging. Mein Großvater mütterlicherseits starb an diesem Tag.
Es war ein riesiger Schock. Vielleicht lag es daran, dass ihn die Reise anstrengte. Er hatte ein schwaches Herz und es nicht ganz verkraftet. Aber dabei blieb es nicht. Meine Großmutter konnte sich von diesem Schock nicht erholen und gab mir die Schuld an allem. Ich verstand die Welt nicht mehr. Alles wurde schlimmer, als wir sie ein Jahr später wieder zu meinem Geburtstag einluden – klar wurde sie auch zu den Geburtstagen meiner Eltern und meines Bruders eingeladen, aber das Schicksal hatte es wohl auf mich abgesehen. Sie kam und war außer sich. Der Schmerz und die quälenden Erinnerungen von dem Jahr zu vor machten ihr zu schaffen und auch sie hatte einen Herzanfall. Wir fuhren sie ins Krankenhaus, doch es war zu spät. Meinen Großvater väterlicherseits kannte ich nie, und meine Großmutter vermachte mir diese Wohnung. So ist es doch verständlich, dass ich diese traumatischen Erlebnisse in Hass gegenüber meines Geburtstages kompensieren musste.
So vergingen einige Stunden, in denen Chi und ich uns den überflutenden, bunten Bildern des Fernsehers hingaben. Keiner von uns Sprach ein Wort. Ich mochte es nicht so, während des Fernsehens zu reden und Chi hielt sich eigentlich immer daran. Vielleicht auch deswegen, weil er etwas mundfaul war, was Themen betraf. Mal wieder seufzte ich und blickte auf die Uhr.
„Wir sollten langsam los“, meinte ich, stand auf und trug das benutzte Geschirr in die Küche. Chi nickte und stand auch auf. Er schaltete den Fernseher aus und zog sich seine Schuhe an.
„Bist du wieder mit dem Fahrrad da?“, erkundigte ich mich als ich aus der Küche heraustrat.
„Klar, wie immer…“
„Gut, dann fahren wir mit dem Rad zu meinen Eltern…“
Eigentlich wollte ich mit der Straßenbahn fahren, doch da wurde mir ein Strich durch die Rechnung gemacht. Es ging schnell in den Keller, um mein Fahrrad zu holen und dann fuhren wir los. Ich mochte es in dieser Jahreszeit den Blättern beim sich Färben und Fallen zuzusehen. Mir kam es vor, als steckte ich in einem großen Gemälde mit vielen bunten Farben. Die Sonne strahlte an diesem Nachmittag so hell, dass die Intensität der Farben ins unermessliche gesteigert wurde. Es war schön zu betrachten, einfach nur schön. Weniger schön jedoch war es, durch die Engen Gassen der Stadt zu lenken und richtig Gas zu geben, den Berg hinauf zukommen. Wie ich es doch hasste, so zu strampeln und zu schwitzen!
‚Wäre ich doch nur mit der Straßenbahn gefahren‘, hechelte ich immer wieder in Gedanken.
Bald kamen wir an. Meine Eltern wohnten in einer 3-Zimmer-Wohnung, mit Balkon. Das Wohnhaus war recht groß, hatte sicherlich 5 Stockwerke. Das erinnerte mich an ein dramatisches Erlebnis in meinem Leben. Gut ich stelle es gern nur so dar. Ich blieb einmal, als ich von der Schule nach Hause kam, im Fahrstuhl stecken. Hat sicherlich mindestens eine halbe Stunde gebraucht, bis mich jemand hörte und genauso viel Zeit verging, bis ich endlich „befreit“ wurde. Seit diesem Tag fuhr ich nie wieder mit dem Fahrstuhl.
„Wir haben ja noch etwas Zeit“, meinte Chi, „Komm mit, fahren wir hoch zum Hügel“
„Zum Hügel? … Na wenn du meinst“
Wir schwangen uns wieder auf die Räder und fuhren hinauf zum Hügel. Eigentlich mussten wir nur der langen Straße folgen, bis wir zum höchsten Punkt der Stadt angelangt waren. Es war der Hügel.Ein einfach Hügel mit einem riesigen, alten Baum darauf. Wir kletterten gern auf ihm und genossen die Aussicht. Von dort oben konnten wir sogar die Küste entdecken und beobachteten, nach dem wir jeden Tag dort spielten, den Sonnenuntergang. Als wir beide 14 waren, war Chi kurz davor eine Freundin zu bekommen. Er war so aufgeregt und wollte unbedingt das Küssen üben. Da war es ihm egal, dass wir Jungs waren und testete es einfach an mir aus. Er nahm sich danach auch noch die Freiheit mich zu fragen, wie ich es fand. Erst war ich geschockt und wollte nichts sagen, doch dann fing ich so das Lachen an, dass es ihn ansteckte. Wir lachten und ich kugelte mich und merkte dann nicht, dass ich den Hügel hinunter rollte. Ich versuchte zu bremsen, doch es ging nicht, bis ich eine Position gefunden die mich Leben rettete. Das war ein Erlebnis. Für ihn und für mich. Vor allem nachdem er merkte, dass das Mädchen in das er so unglaublich verknallt war, schon mit dem Schlägertypen aus der Parallelklasse ging. Sein Herz war gebrochen und ich versuchte nicht weiter darauf herum zureiten.
Wir waren da und lehnten unsere Räder an den großen Baum, der mir in diesem Moment tausend Jahre älter erschien. Lange Zeit war ich schon nicht mehr hier hoch gekommen. Der Wind fuhr mir durchs Haar und ließ einige der roten und gelben Blätter des Baumes ihre letzte Reise beginnen. Chi saß neben mir und gemeinsam blickten wir Richtung Küste. In der Ferne konnte ich ein Schiff ausmachen. Ich gab mich dem Ausblick ganz hin und wir vergaßen die Zeit.

„Horizon, ich glaube deine…“
„Shhh“, unterbrach ich ihn, „Ich weiß, aber die Sonne geht gleich unter…“
Chi war schon dabei aufzustehen, doch saß sich wieder hin. Die Sonne ging unter. Es kam mir vor, als würden fünf Minuten vergehen, doch in Wirklichkeit dauerte es sicher länger an. Die Sonne tunkte die Wolken erst in ein Goldgelb, das zu einem Orange und schließlich zu einem kräftigen Rot wurde. Die flauschigen, fetten Wolken wurden immer mehr.
„Gleich ist die Sonne am Ende des Horizonts…“, sagte ich. Und bald verschluckte der Horizont jede Farbe und ein tiefes Dunkelblau nahm dafür den Platz ein. Es tropfte. Chi stand auf und stieg auf sein Fahrrad. Ich stand auf, versuchte wie ein kleines Kind einen Tropfen zu fangen, was mir gelang und schritt auch zu meinem Fahrrad. In diesem Moment brach der Himmel zusammen. Die einzelnen Tropfen wurden immer heftiger und bei unserem Rückweg begleitete uns ein Schleier aus Regen. Klatschnass klingelte ich bei meinen Eltern, die Chi und mich lachend begrüßten.



 the beginning of the horizon

Gestresst saß ich mich vor den Fernseher, bewaffnete mich mit der Fernbedienung und begann durch die Programme zu schalten, die mir alle nicht die Ablenkung brachten, die ich mir so sehnlichst gewünscht hatte. Mein Name ist Horizon und heute hatte ich meinen Schulabschluss absolviert. Momentan lebe ich allein in der Wohnung, die mir meine Großmutter vererbte, jobbte neben der Schule um mir dies leisten zu können und blickte verzweifelt in die Zukunft. Was sollte nun mein nächster Schritt sein? Ich musste mir das wohl überlegen, ein kleiner Fehler schon kann alles in eine falsche Bahn lenken. Ich stand unter Druck. Meine Familie hatte große Erwartungen in mich. Der Abschluss war nicht gut, nicht schlecht, einfach mittelmäßig, aber trotzdem bekam ich das Gefühl nicht los, dass sie mich immer noch als Arzt oder Anwalt sehen wollten. Was sollte dieser ganze Stress? War es nicht mein Leben, MEIN Leben? Genervt drückte ich auf eine Taste der Fernbedienung und das Programm schaltete weiter. Zugegeben genoss ich es irgendwie in meiner Boxershort vor dem Fernseher zu sitzen, obwohl nichts lief, was mich wirklich interessierte. Mein Magen knurrte, was mich wirklich nicht in Verwunderung ausbrechen ließ, da ich seit langem nichts gescheites gegessen hatte. Ich starrte auf meinen Bauchnabel. Warum haben manche Menschen einen Bauchnabel der nach außen ging? So was ist doch wirklich nicht schön. Ja, ich fand Bauchnabel die nach Außen gingen nicht schön anzusehen, mochte lieber die, die nach Innen gingen.
„Uhh“, schlotterte ich.
Ein kalter Luftzug strich über meinen halbnackten Körper und sofort stellten sich alle Häärchen auf.
„Besser ich mache das Fenster zu und koche mir etwas“, sprach ich zu mir selbst, stand auf und tat dies. Ich hatte keine kleine Küche. Sie hatte einen kleinen Kühlschrank, der für meine Bedürfnisse locker ausreichte, einen alten Gasherd und noch eine Gasheizung. Eine Spüle mit Spülmaschine schloss die Zeile ab und dem gegenüber stand ein kleiner Schrank und eine Sitzecke mit Tisch. Eine recht gemütliche Küche, wenn man das so sagen konnte. Aus dem Schrank holte ich mir eine Fertigpackung Asia Nudeln.
„Mhh, lecker“, murmelte ich vor mich hin.
Warum stand auf der Verpackung eigentlich zwei Portionen? Seitdem ich angefangen habe, diese Nudeln regelmäßig zu essen, kam es mir nie so vor, als würde das für zwei komplette Portionen reichen. Ich mein, als Beilage kann ich mir dieses Gericht nun wirklich nicht vorstellen. Dennoch verleihen mir diese „zwei Portionen“ nie das Gefühl, dass ich für zwei gegessen habe. Und sich nach dem Schärfegrad, der in Form von Chilischoten – es waren vier von fünf -, hielt sich dieses Gericht wohl auch nicht. Gut ich muss eingestehen, dass ich scharfes leichter vertragen konnte als so viele andere, trotzdem hätte ich diesen Asia Nudeln höchstens 2 von 5 Chilischoten verliehen. Was für ein hartes Leben, nicht wahr? Nun ließ ich wieder von meinen Gedanken ab und konzentrierte mich auf das Kochen meiner ach so geschätzten Nudeln.
„Köstlich!“, schmatzte ich, mit vollem Mund und der Fernbedienung in der Hand.
Ich würgte den letzten Bissen hinunter, verschluckte mich daran und nach einem tränen treibenden Hustenanfall schaffte ich es endlich einen halben Liter Cola in mich hineinzuschütten, um dann mit vollem Bauch genüsslich Knöpfe zu drücken.Ich spürte, wie die Zeit verging, was wohl eher daran lag, dass sich mein Drang aufs Klo zu müssen exponentiell verstärkte. Warum musste mich nur diese verdammte Faulheit daran hindern, aufzustehen und mich zur erlösenden Schüssel zu bewegen. Seufzend erinnerte ich mich an Chi. Als wir früher immer zusammen unterwegs waren, war er es, der sein Klodrang nie unterdrücken konnte. Ständig mussten wir Pause machen oder schnell mal hinter den nächsten Busch gehen um Druck abzulassen… Halt, wir? Nein, das war einzig und allein immer er, der mich dann genervt für einige Minuten allein ließ.
Eine halbe Stunde hielt ich es noch aus, ohne aufs Klo zu gehen. Dann jedoch merkte ich, dass ich kein südamerikanischer Staudamm war. Durch das Dunkle tapste ich, die Hände stehst an der Wand entlang streifend, damit ich mich noch zurechtfinden konnte. Ja, ich sah ein wenig schlecht im Dunkeln, aber das lag doch nur daran, dass ich von Fernsehen geblendet war. Die Tür zum Bad knarrte als ich sie öffnete und dann erreichte ich endlich die Schüssel der Erlösung. Ich hob die Brille und pinkelte was das Zeug hielt. Es wäre so schön gewesen, hätte es nicht genau in diesem Moment geklingelt!
„ARGH!“, brüllte ich und ließ danach einen genervten Seufzer ab.
„Wer ist das schon wieder?“
Es klingelte wiederholt und hörte nicht auf.
„WAS IST!?“, brüllte ich, was ich durchaus machen konnte, da das Bad der Haustür gegenüber lag.
„Mach auf Horizon, ich bin’s!“, bat Chi der in den Spion grinste (leider konnte ich das ja nicht sehen).
„Ich bin auf dem Klo!“, brüllte ich wieder.
„Dein bester Freund braucht dich in harten Zeiten und du pinkelst!?“
„Jetzt warte doch! Und sei leise, die Nachbarn!“
Ich spülte. Fertig. Was für ein überaus entspannendes und befreiendes Gefühl das doch war. Sogleich ging ich zur Haustüre, machte sie auf und wurde, schon bevor ich überhaupt einen Ton aus mir herauskriegen konnte, von meinem besten Freund Chi mit einer dicken Umarmung begrüßt.
„Sie hat mich verlassen!“, redete er in einem weinerlichen Ton und drückte sein Gesicht in meine nackte Brust.
„Nicht schon wieder“, seufzte ich.
Er ließ mich los, sodass ich die Tür schließen konnte.
„Diesmal wegen einem echt muskulösem Kerl aus der Para-Klasse. Der eine der sich einen Bart stehen lässt, du weißt schon wen ich meine“, erzählte er mir und gestikulierte wild mit seinen Armen, um mir zu zeigen wie groß, muskulös und behaart dieser Kerl doch war.
„Hey“, fing ich an, „Setz‘ dich doch erst mal ins Wohnzimmer… Willst ein Eis?“
Chi nickte heftig und verschwand, nachdem er seine Schuhe und seine Jacke auszog ins Wohnzimmer. Wie schnell sich doch einzelne Ereignisse als Gewohnheit einbürgern. Jedes mal, wenn Chi verlassen wurde, kam er zu mir und wir aßen zusammen Eis. Egal ob es Winter oder Sommer war, egal ob ich gerade auf dem Klo war oder ob ich schlief, lernte oder so tat als wäre ich nicht zu Hause. Wir taten es. Jedes einzelne Mal. Mit der Zeit hörte ich auf mitzuzählen, ich wollte nicht wie beim Schäfchenzählen einschlafen. Ich ging zurück.
„Erzähl es mir“, bat ich ihn und drückte ihm die Schüssel Eis in die Hand.
Er zog den Rotz in seiner Nase hoch, schaufelte schnell ein paar Bissen und fing an zu erzählen.
„Du weißt ja, nach der Abschlussfeier wollten wir noch etwas Party machen – Hätte dich schon gern dabei gehabt – sind zusammen zu diesem einen Heini da gegangen. Und, und, und, und, und….“
„Mh, Erdbeereis, hatte ich schon lang nicht mehr“, murmelte ich, „und dann was?“
Nun ja, waren wir auf der Party. Anfangs ging es ja noch, doch dieser Muskelprotz hat sie mir ständig ausgespannt. Wollte mich nicht wehren, ich mein wer kommt schon gegen diesen Haufen Muskeln an. Auf jeden Fall ist sie dann mit ihm verschwunden und später wiedergekommen. Meinte knallhart zu mir sie mache Schluss, es wäre für uns das Beste und so was…“
„Ja, das übliche…“, antwortete ich.
„Ich versteh es einfach nicht, was hat er was ich nicht habe?“
„Muskeln, kein Hirn, kein Sinn für Humor und kein Herz… Nun ja, vielleicht einen Großen mehr aber auch nicht…“
„Danke, Mann“, sagte er und strich sich mit seinem Unterarm den Rotz aus dem Gesicht.
„Hör zu Chi, vergiss sie einfach, ja? Sie war nicht die richtige für dich. Sie ist nur ein Flittchen…“, sagte ich und in Gedanken führte ich den Satz zu ende, ‚Wie all die vorher auch.‘ In der Tat sagte ich diese Sätze wirklich sehr oft.
„Recht hast du“, seufzte er und schlang sein Erdbeereis hinunter.
„Mach dir nichts daraus, ja?“, meinte ich und klopfte auf seine Schulter.
„Danke, dass du für mich da bist“, bedankte er sich und versuchte wieder zu grinsen.
„Hey, gern gemacht“, grinste auch ich.
„Lecker!“, stieß es aus ihm heraus als er seine leere Schüssel abstellte, „Sag mal, was schaust du dir denn da an?“
Chi fing an zu lachen.
Doch bis ich merkte, was da im Fernsehen lief, wurde ich schon knallrot und er lag auf dem Boden vor Begeisterung.
„Wusste ja gar nicht, dass du auf so was stehst!“, brüllte er durchs Wohnzimmer.
„Hey… das … das lief nur zufällig, ja?“
„Ach, deswegen warst du so sauer, als ich dich auf dem Klo gestört habe.“
Er konnte nicht aufhören zu lachen. Mir war das ober peinlich.
„Ach sei doch leise!“
Lang hielt ich es nicht mehr aus und verfiel auch in tobendes Gelächter.
Freunde, dachte ich mir während ich später im Bett lag, als Chi wieder gegangen war. Was würde ich nur ohne Chi tun? In meiner Gedankenwelt ertrinken? Klar wäre es leicht aus den Wörtern meiner Gedanken ein Floß zu bauen, doch ich konnte es nicht. Ich war schon immer ein Typ gewesen, der nachdachte und nicht aufhören konnte. Es war anders wie mit meinen Traumwelten. In den Traumwelten folgte ich einem Strang von Geschehnissen und ließ mich vollkommen davon treiben. Meine Gedanken jedoch ließen sich von allem möglichen ablenken und schon bevor ich den Gedanken A zu Ende bringen konnte, kam ich auf Umwegen zum Gedanken Y.
Chi ist schon ein besonderer Mensch. Wie er es manchmal schaffte mich zur Weißglut zu treiben mit seiner Ignoranz und seiner kindisch-aggressiven Art. So oft musste ich ein Auge zudrücken, nachgeben oder sonstige Dinge tun, die ihm halfen und mich benachteiligten. Jedoch … jedoch konnte ich nicht wirklich böse auf ihn sein. Tief in mir wusste ich, dass er immer mein bester Freund bleiben würde, egal was komme, egal wie viele Probleme wir durchstehen müssten, allein schon weil er Chi war. Chi würde immer Chi mein bester Freund bleiben. In all den Jahren, die ich ihn schon kannte, hatten wir einiges durchgestanden. Aber definierte sich unsere Freundschaft allein durch die gemeinsamen Erinnerungen? Definierte sie sich für mich allein dadurch, dass ich mich erinnern konnte? Was war wenn ich mein Gedächtnis verlieren würde, eine Amnesie hätte? War es dann aus mit der Freundschaft? Nein, nach langem Überlegen kam ich darauf, dass unsere Freundschaft nicht allein durch meine Erinnerungen daran gestützt wurde, sondern auch durch die Erinnerungen Anderer, die Dinge die wir taten, den Ereignissen die nicht nur uns, sondern auch alles um uns herum veränderten, die Umwelt, der Sonne, der Mond, den Sternen. Unsere Freundschaft schien sich schon allein auf unsere Existenz zu berufen. Als wären wir auserkoren Freunde zu sein. Nein, jetzt driftete ab. Das war einfach zu eigenartig. Ich dachte weiter darüber nach. Konnte einfach nicht einschlafen. Niemals konnte ich mir vorstellen, dass Chi aus meinem Leben weichen würde. Er war einfach bisher stets präsent und … Arg! Jetzt steckte ich wieder in so einer Art Gedankenloch. Das habe ich öfters. Denke einfach nach, doch irgendwann steckt man fest. Ist ungefähr wie bei einem Auto, dass im Matsch hängen bleibt. Man gibt Gas und Gas, aber dennoch kommt man mit diesen Bemühungen nicht aus dem Marschloch heraus. Was bleibt einem also übrig? Auszusteigen und anschieben. Doch allzu leicht ging das bei den Gedanken leider nicht. Man musste ablassen vom „Gas“ und den Gedanken wieder ihren gewohnten, ihren natürlichen Fluss wiedergeben. Erzwingen war da keine so gute Idee. Also stand ich auf und ging zu meinem Schreibtisch, auf dem mein MP3-Player lag. Schon als er angeschalten war, dröhnte ich die Lautstärke bis aufs maximalste auf, damit ich die Musik auch hören konnte, ohne die Kopfhörer zu tragen. Leider kamen keine guten Lieder, soweit ich auch schaltete. Doch dann fand ich eins! Aus Eile jedoch schaltete ich um eines weiter. Verpasst. Hatte ich noch Lust zurückzuschalten und es zu hören? Aber das Lied, das nun lief, gefiel mir auch gut. Nein, ich musste einfach das andere Hören. Ich schaltete zurück und hörte die ersten dreißig Sekunden. Nein, es war doch nicht das, was ich hören wollte. Fast endlos schaltete ich weiter. Es half einfach nicht, mich auf meine Gedanken zurückzubringen. Seufzend lag ich in meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Ah! Vielleicht war es das, was mich nicht einschlafen ließ: das Fenster war geschlossen. Ich öffnete es kurzerhand und erfrischte mich an einem Schwall frischer Luft. Ich liebte es mich diesem Stoß von Frischluft hinzugeben. Nachdem ich wieder in meinem Bett lag, hatte ich endlich etwas gefunden, worüber ich nachdenken konnte. Es war die Zukunft.Die Zukunft machte mir Angst.
Ich hatte nicht einmal Pläne, oder großartige Träume. Eigentlich wollte ich lieber, dass alles so bleiben würde wie es ist. Aber das ging nunmal nicht. Die Welt musste sich verändern. ‚Hauptsache ich habe Chi‘, dachte ich mir. Ich atmete tief ein. Platz für die Zukunft ist auch noch morgen. Weg mit diesen Gedanken. Und atmete wieder aus.
Ich starrte aus dem Fenster und sah die Wolken in der Morgendämmerung vorbeiziehen. So lange war ich also noch wach geblieben? Die Sonne ging langsam auf.
„Morgenrot, schlecht Wetter droht“. Das ging mir gerade durch den Kopf. Zugegeben, das dachte ich immer, wenn ich den Sonnenaufgang sah. Aber ob das stimmte? Ich konnte mich nicht mehr erinnern.
„Wenn ich schon einmal wach bin“, schnaubte ich und stand auf. Das Fenster öffnete ich komplett und saß mich auf das Fensterbrett, die Füße an meinen Körper angewinkelt. Ich roch den Morgentau, hörte einige Vögel ihre Lieder singen und starrte weiter, auf die vorbeiziehenden Wolken, die Platz für die am Horizont aufsteigende Sonne machten. An diesem Morgen sollte die Zukunft beginnen.



 still, the horizon hasn’t moved at all

In Zeiten wie diesen, kramte ich immer diese alte CD aus meiner CD-Kiste und hörte sie mir an. Die ersten verfliegenden Momente, in denen die Töne durch das Zimmer hallten, weckten in mir Gefühle und Gedanken, nein, sie beruhigten sie. Ich sollte mich lieber beruhigen.  Meine zerzausten Haare fielen mir ins Gesicht. Seufzend strich ich mir die Strähnen beiseite und stützte meinen schweren Kopf auf die andere Hand. Ja, in Zeiten wie diesen war es echt angenehm, diese alte CD zu hören. Heute war einfach nicht mein Tag gewesen, ja schon als ich morgens im Bad stand, hielt ich es kaum aus vor dem Spiegel zu stehen und mein Selbst anblicken zu müssen. Mein Blick schweifte immer ab, doch ich verlor mich nie aus meinem Blickfeld. In der Straßenbahn ging es dann weiter und in der Schule und wieder zu Hause. Der ganze Tag an sich nervte mich schon. Nun saß ich da. In der Dunkelheit meines Zimmers und hörte diese CD während ich die leuchtende Anzeige des CD-Players beobachtete. Es war nicht das einzige Gerät, das blinkte oder leuchtete. Neben meinem Bett stand der Wecker. Dann gab es noch den Fernseher, dessen Standby-Lampe ständig an war und natürlich die digitale Anzeige der Uhrzeit auf dem DVD-Player. Es war dunkel, aber trotzdem leuchtete mein Zimmer auf seine Art und Weise. Von draußen schien das Licht der Straßenlaternen und des Mondes herein. Sterne konnte man nur spärlich erkennen. Wie immer war die Stadt zu hell, als dass man einfach aus dem Fenster schauen könnte um die Milliarden und Abermilliarden von Sternen zu entdecken.Ich setzte mich auf meinen Sessel, und zwar so, dass die Beine über die Rückenlehne hingen und der Kopf vorne über war.
Ist euch das Sprichwort „Zeit heilt alle Wunden“ geläufig? Das mochte wahr sein, aber ich glaubte nicht wirklich daran. Meiner Überzeugung nach, war es die Zeit, die einem die Wunden zufügt. Es sind solche nervigen Ereignisse, wie wenn ihr auf eine wichtige Person wartet, z.B. bei einem Date, und ihr stundenlang dasteht, sodass ihr schon gar nicht mehr wisst, wie viel Zeit vergangen ist? Dann kommt das Mädchen auf euch zu, entschuldigt sich mit irgendeiner Ausrede, sei es ihr Hund wurde krank oder der Bus fuhr nicht, aber ihr genau wisst, dass sie vorher bei einem anderen Kerl war? Nun gut, der Kerl hatte damit wirklich nichts zu tun. Es war einfach die Zeit, die ihr anderweitig hättet nutzen können. Wie zum Beispiel für Hausaufgaben… Haha, ich scherze nur. Das Lied wurde leiser und die letzten Töne hallten noch durchs Zimmer. Dann wurde es immer stiller, bis es nur noch das Rattern des alten CD-Players und das Zirpen der Grillen von Draußen war. Es vergingen diese paar Sekunden, in denen mein Gehirn noch pulsierte, wie als wäre die verstummte Musik ein Erdbeben gewesen. Hatte ich die Lautstärke zu laut gedreht? Nein, dachte ich mir und starrte weiter auf die Lichter. Das nächste Lied fing an zu spielen. Plötzlich klingelte es und ich wanderte zur Tür. Ich war nur in einer Boxershort bekleidet – es war ja immerhin Sommer und recht warm – aber es störte mich nicht, meinem Gast die Tür halbnackt zu öffnen.
„Ah, schön dich zu sehen!“, begrüßte mich mein bester Freund Chi, „Kann ich hereinkommen?“
„Klar“, brummte ich und hielt ihm die Tür auf. Er war nicht allein. An seiner Hand hing noch ein Mädchen mit blonden Haaren. Sie grinste mich an, winkte mir kurz zu und wurde von Chi in die Wohnung gezerrt.
„Hör zu…“, fing er an zu erklären, „Du weißt doch, bei mir zu Hause ist gerade echt Stress…“
Dann hielt er kurz inne und schob das Mädchen in mein Schlafzimmer. Er schaute ihr noch verträumt hinterher, flüsterte ihr noch Worte wie „Warte doch kurz da drin, ja?“ und „Ich liebe dich“ hinterher und schloss die Tür für einen kurzen Moment.
„Und wie du gesehen hast, hab ich hier ein ultra-heißes Mädchen am Start“, er sprach so, dass sie es nicht hören konnte. Er sprach auch mit einer echt interessant aussehenden Mimik und Gestik. Wild zeigte er mit dem Finger auf die Schlafzimmertür.
„Kann ich nicht eine Nacht bei dir bleiben? Wir werden auch bestimmt nicht viel Dreckiges anstellen…“
Ich seufzte auf und rieb mir die Schläfen.
„Ach komm, bitte…“, bat er mich und sah mich mit den glitzerndsten Augen an, die ich je in meinem Leben gesehen hab.
„Ja gut“, gab ich nach.
„Vielen Dank! Ich bin dir echt was schuldig“, grinste er über beide Ohren und verschwand dann in meinem Schlafzimmer.
Warum ließ ich mich immer nur von ihm so ausnutzen? Ich schlenderte zurück in das Zimmer, aus der die Musik tönte und setzte mich wieder auf den Sessel. Natürlich mit den Füßen über die Rückenlehne und den Kopf nach vorn.
Kennt ihr das, wenn euer Körper von ein auf den anderen Atemzug plötzlich ganz schwer wird? Wie als würde euer Kopf einen Schwerkraftschalter umlegen, während ihr etwas tut und dann auf einmal eure Sicht sich verunklärt und eure Gedanken so erschüttert werden, dass sich das auf euren ganzen Körper auswirkt? Dieses Gefühl habe ich immer, wenn ich anfange über etwas ganz bestimmtes nachzudenken… Und dieses ganz bestimmte Thema war entweder Freundschaft oder die Liebe. In diesem Fall sogar beides. Es machte mich jedes mal aufs Neue fertig. Chi, mein bester Freund, hatte doch irgendwie jedes Wochenende eine andere am Start, oder? Ich zählte schon gar nicht mehr mit, so viele Freudinnen stellte er mir vor. Ganz egal wie sie hießen, hatten sie aber dennoch alle etwas gemeinsam. Nein, es war nicht, dass sie sich so leicht von ihm faszinieren ließen, sondern eher… – wie soll ich sagen? – dieser gewisse Blick in ihren Augen, der mir verriet, dass sie dieser bestimmte Typ Mädchen waren. Eigentlich war ich glücklich, dass ich mich nie in Mädchen verliebte, die diesen Blick drauf hatten. Es waren eher der Typ von Mädchen, die mich mit einem anderen Blick ansahen.
„Sorry, du bist doch eher ein bester Freund, mit dem ich über alles reden kann, als dass du jemals was mit mir anfangen könntest“, schrien mir ihre Augen jedes mal direkt ins Gesicht.
Es mag zwar äußerlich so aussehen, als wäre ich emotional abgehärtet, aber das war ich nicht. Ich denke, niemand kann das so sein. Tief in einem drin spürt man immer diese Erschütterung, die einen fesselte und schüttelte und dann zog es noch so richtig an, dass die Ketten der Fesselung selbst erschüttert wurden, dass alles in allem einfach nur noch… Ach… Ich seufzte wieder. Dann war da noch die Sache mit der Freundschaft. Ich liebe Chi als meinen besten Freund, versteht das nicht falsch. Aber es gab Tage, da brachte er mich so zur Weißglut, dass ich am liebsten einfach… Nun ja, das könnt ihr euch denken. Dennoch schaffte ich es weder ihn anzuschreien, oder meiner Wut sonst irgendwie Ausdruck zu verleihen. Es war nicht nur, dass ich einfach keine Lust hatte, wütend zu sein, oder es ihm nicht antun wollte, weil er es nicht verdient hätte, sondern es war eher das Bewusstsein, dass ich diese wichtige Freundschaft um keinen Preis verlieren mochte. Kennt ihr das, wenn ihr eine Person trefft und dann merkt, dass sie eure zweite Hälfte ist? Und ich meine das jetzt nicht nur so im klischeehaften Sinne. Er gab mir das, was mir das Gefühl vermittelte, eine Hälfte eines ganzen zu sein. Eine halbe Kugel, zum Beispiel. Und was passiert mit einer halben Kugel? Sie fällt um und landet auf dem Rücken, hilflos, ohne sich aufrichten zu können. Das Rattern des CD-Players unterbrach meine Gedanken kurz, bis das nächste Lied spielte und ich wieder davonflog.
Die Zeit verflog, die Musik stoppte und ich schlief ein. Es war eine ungemütliche Nacht, aber man konnte es aushalten. Mit einem dröhnenden Kopf stand ich auf und ging in die Küche. Schlaftrunken tastete ich mich bis zum Kühlschrank, nahm die Milch und schüttete etwas in ein Glas, das in der Nähe stand. Ich setzte mich an den Tisch und musste erst einmal richtig wach werden.
„Morgen, Horizon…“, begrüßte mich Chi liebevoll, der auch schon am Tisch saß. Man, hatte ich das aber erst spät bemerkt.
„Gut geschlafen?“, fragte er. Da er mich aber gut kannte, erwartete er keine Antwort.
„Hey…“, redete er weiter und setzte seine Tasse ab, an der er vorher genüsslich nippte, „Danke nochmal, für letzte Nacht. Hast mich echt gerettet.“
Chi grinste mit mit dem strahlendsten Lächeln an, das er zu bieten hatte. Dann ging mir das Herz irgendwie auf.
„Kein Problem“, sagte ich und lächelte vorsichtig, aber ehrlich.
„Wollen wir heute vielleicht was zusammen Essen gehen? Ich lad dich auch ein“, schlug er mir vor, „Hab gehört, dass in der Stadt ein neuer Laden aufgemacht hat…“
„Klar, wieso nicht?“, meinte ich. Mensch, war ich dankbar über dieses Angebot. Aber halt, irgendetwas stimmte doch nicht, oder?
„Wo ist eigentlich das Mädchen?“, fragte ich vorsichtig und sah mich etwas um.
„Sie ist schon weg…“, meinte Chi und nahm wieder einen Schluck aus seiner Tasse.
„Musste sie wohin?“
„Sie musste weg von mir…“, erklärte er. Plötzlich klang seine Stimme etwas trauriger.
„Oh…“, gab ich nur von mir.
„Sie meinte, wir würden nicht zusammen passen…“, seufzte er. Ich merkte sofort, dass es ihn schon bedrückte.
„Weißt du“, fing ich an, „Sie hat eh nicht zu dir gepasst… Erinnerst du dich noch an die eine, aus dem Supermarkt? Mit der lief es doch gut, nicht wahr?“
„Haha… stimmt.“
„Nun ja, bis du ihr dann nicht nur einmal ausversehen Suppe über sie geschüttet hast…“
Und schon lachte er wieder. Ich lachte mit.
Als wir uns beruhigt hatten, sagte er: „Jetzt hab ich aber Hunger…“
„Dann gehen wir doch gleich zu diesem Laden? Wär doch n tolles Frühstück. Vorallem weil ich nichts dafür zahlen muss.“
„Okay, kein Ding.“
Wir zogen uns an und gingen zusammen in die Stadt, in diesen neuen Laden. Lang blieben wir nicht. Es schmeckte uns so schrecklich, dass uns der Appetit verging und wir einfach gingen. Am Ende unseres Ausfluges landeten wir wieder an dieser einen Stelle, unter diesem Baum, bei dem wir die Aussicht auf den Horizont genießen konnten.
Chi würde immer mein bester Freund bleiben, das stand fest. Egal wie stark sich die Welt bewegte und veränderte, würde unsere Freundschaft halten und stabil bleiben.